Mittwoch, 3. Juni 2009

All die kleinen Augenblicke

Dieser Text ist für meine Mutter, die diese Woche 70 wird und das Internet wie viele Errungenschaften des 20. Jahrhunderts als unglaublich ärgerliche Zeitverschwendung empfindet.

Bisweilen erschreckt mich mein eigenes Mitteilungsbedürfnis. Wie komme ich dazu, Ihnen (ja, Sie da, die Sie eigentlich nur wissen wollten, wie man in zwei Monaten einen Krimi schreibt, und sich dann festgelesen haben – herzlich willkommen in unserem kleinen virtuellen Büro!) und Ihnen, der Sie regelmäßig mal vorbeischauen, weil Sie den Praktikanten süß finden, Details aus meinem wenig spektakulären Privat- und Berufsleben anvertrauen zu wollen? Bilde ich mir allen Ernstes ein, Sie interessiert, was ich von Kaizen, Atomkraft, geschweige denn vom Web 2.0 halte, was mir auf der Pasta-Party oder beim Lauftraining durch den Kopf geht und ob ich mich von der Schweinegrippen-Panik anstecken lasse?

Was in einem Blog noch verbrämt als mehr oder weniger tiefgründige Betrachtungen über den Alltag des durchschnittlichen Internet-Nutzers im beginnenden 21. Jahrhundert daherkommt, darf sich bei Twitter hemmungslos austoben: der Impuls, die Mit- oder gar die Nachwelt an jenen Momenten teilhaben zu lassen, deren flüchtige Banalität uns, während wir sie erleben, in ihrer unerträglichen Bedeutungsfülle schier das Herz zerlegt.

Tweets sind die primitivste Form jener uralten Tradition, dem Leben – dieser unaufhaltsamen, unvorhersehbaren Bewegung auf den Tod zu – in Form von Tagebuchaufzeichnungen Sinn und Struktur aufzuzwingen oder auch abzuringen: der Versuch, das Jetzt (schnell, schnell, bevor es zum Schon-Vorbei wird!) nicht nur zu dokumentieren, sondern im wahrsten Sinne des Wortes festzuhalten, zu verewigen, ihm lauter Denkmäler zu setzen, und sei es in einem kurzatmigem Medium mit Langzeitgedächtnis wie dem Internet. Verweile doch, du bist so schön und meine Pizza gerade so lecker! Oder, falls Sie‘s lieber mit den Denkern als mit den Dichtern halten: Follow me ergo sum.

Jedes Tweet ist – ebenfalls im Wortsinn – ein Lebenszeichen, ein Machtwort Aufschrei jämmerliches Piepsen gegen die Vergänglichkeit: „Hallo, ich bin‘s! Mich gibt es, ja wirklich! Dass es mich gibt, verdient Beachtung! Hallooooo ... hört mich denn niemand?!?!?!?“ Es ist Selbstvergewisserung und zugleich Signal an andere, an Bekannte und Unbekannte, Freund und Follower. Diesen Willen zum Sinn, diesen Drang, all die kleinen Augenblicke ja nicht unbemerkt verstreichen zu lassen, finde ich so traurig wie tröstlich: traurig, weil sie doch nur uns selber etwas bedeuten, und tröstlich, weil sie uns so viel bedeuten.

Ach, ist der Himmel heute wieder herrlich blau! Ob sich die Vögel vor meinem Fenster wohl auch den Kopf zerbrechen, warum sie zwitschern?

Donnerstag, 28. Mai 2009

Wie man eine Kolume schreibt II

Wie versprochen haben wir den Praktikanten auf die Pirsch durch den Blätterwald geschickt, um Ihnen nun unser gesammeltes Halbwissen, ein paar Binsenweisheiten sowie die eine oder andere praktische Anregung zum Thema Kolumnenschreiben zu präsentieren. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem abgedunkelten Konferenzraum, auf dem Tisch ein paar Packungen Salzstangen und Billigkekse. Was, in Ihrer Firma geht es edler zu, mit frischem Faitrade-Kaffee und Plunderteilchen vom Bäcker? Na, da haben Sie aber Glück. Gleich geht’s los, die Spannung steigt. Fast wie damals in der Schule, wenn der Diaprojektor mal wieder nicht funktionierte oder der Lehrer vergessen hatte, den Strom einzuschalten. Doch sieh an, die PowerPoint-Datei öffnet sich anstandslos, der Referent räuspert sich und beginnt zu sprechen. Hier finden Sie seinen Vortrag zum Ausdrucken.
  • Binsenweisheit Nummer eins: Es gibt keine Patentrezepte. Manche Kolumnen verschwinden sang- und klanglos wieder aus der Medienlandschaft, aus anderen werden Kultserien („Sex and the City“), Bestseller-Romane (Helen Fieldings „Bridget Jones“-Geschichten) oder öffentliche Institutionen: Wer bildet sich noch eine eigene Meinung, ohne vorher nachzulesen, was Henryk M. Broder oder Harald Martenstein dazu sagen? Bastian Sicks „Zwiebelfisch“ hat für seine Kollegen aus dem Lektoratsgeschäft mehr Autorität als Duden und Wahrig zusammen, seine Lesungen zum Klein-klein der deutschen Grammatik füllen Konzerthallen, dabei strahlt er den Charme eines Klassenbesten im Lateinunterricht aus.
  • Zeitungskolumnen gelten als exterritorial – was im Normalfall für die zuständigen Redakteure bedeutet: Finger weg! –, ihre Autoren müssen sich nicht strikt an die Blattlinie halten, sondern dürfen und sollen das Zielpublikum auch mal sanft gegen den Strich bürsten. Kolumnen können, müssen aber nicht thematisch gebunden sein. Ebenso wichtig wie ihr Inhalt ist in jedem Fall die Persönlichkeit des Autors – nicht zufällig werden sie oft mit dessen Porträtbild verziert. Dabei kann es sich um eine prominente Figur des öffentlichen Lebens handeln, um einen Fachexperten mit Herrschaftswissen oder auch um ein eigens zu diesem Zweck geschaffenes Alter ego: der ewige Griesgram, die kecke Nymphomanin, der brave Tölpel. (Oder auch: der noch nicht der Trotzphase entwachsene Praktikant; die kreative Chaotin; die so kompetente wie langmütige Chefin, die den Laden trotzdem schmeißt.) Merke: In einer Kolumne darf es kräftig menscheln.
  • Nutzen Sie die Kolumne als Fingerübung, um verschiedenste Techniken und Stilmittel auszuprobieren. Von Satire über Parodie bis zur Tagebuch-, Brief- oder Dialogform ist fast alles erlaubt. Manche Kolumnisten pflegen einen leutseligen Plauderton, andere spitzen lieber polemisch zu. Was können, was wollen Sie Ihrer Leserschaft zumuten? Kolumnisten sind Dienstleister wie alle Schreiberlinge, egal ob sie sich für Freidenker oder Künstlernaturen halten.
  • Kolumnen sind Lesehäppchen. Entsprechend würzig, knackig und scharf gepfeffert dürfen sie zubereitet, entsprechend sollten sie cum grano salis genossen werden: Appetitanreger, keine Sättigungsbeilage. Mir persönlich mundet eine feine Prise Ironie stets am besten, aber das ist reine Geschmackssache.
  • Wenn Ihre Kolumne eine Pointe hat, umso besser; erzwingen sollten Sie sie nicht. Auch hier gilt: Nichts ist peinlicher als ein Witz, über den nur der lacht, der ihn erzählt hat.
  • Das Schöne an einer Kolumne ist ihre Kürze. Sie brauchen Ihr jeweiliges Thema nicht erschöpfend zu behandeln, sondern können sich herauspicken, was Sie daran interessiert. Und wenn Sie wollen, können Sie über kurze Strecken einen Stil und ein Tempo durchhalten, die bei längeren Texten sowohl für Sie als für Ihre Leser sehr anstrengend wären.
  • Gewöhnen Sie sich an, immer ein Notizbuch mit sich herumzutragen – wenn Sie ein modernerer Mensch sind als wir, tut’s auch ein Diktaphon. Wenn Ihnen beim Zeitungslesen, Einkaufen, Spazierengehen, im Kino, Café, Schwimmbad oder Fitness-Studio, in der U-Bahn oder auf dem Trödelmarkt eine Idee kommt – sofort aufschreiben! Einiges werden Sie erst in einem Jahr verwenden, anderes wieder verwerfen – macht gar nichts. Manche Leute legen sich eine Kartei oder Datenbank an, um Formulierungen zu sammeln, die sie besonders genial finden. Das ist eine prima Sache – solange Sie es nicht machen wie ein uns bekannter Journalist, der so stolz auf eine Formulierung war, dass er in zwei grundverschiedenen Filmrezensionen Wort für Wort denselben Satz benutzte!

Schreibblockade
  • Schreibblockaden sind kein Problem, sondern eine Chance – nutzen Sie sie! Doch, ehrlich. Sie müssen es nur geschickt anstellen. „Also, diese Woche ist ja Pfingsten, und ich weiß überhaupt nicht, was ich dazu schreiben soll …“: So machen Sie sich höchstens zum Pfingstochsen.
  • „Zum Thema Pfingsten gäbe es bestimmt eine Menge zu sagen: aus christlicher Sicht, aus atheistischer Sicht, aus Arbeitgeber- oder aus Arbeitnehmersicht. Mir fällt dazu rein gar nicht sein. Nada y pues nada, wie Hemingway gesagt hätte. Filmriss, Sendepause, Funkstille, Nachrichtensperre. Tabula rasa. Mich beschäftigt vielmehr die Frage, wieso Biolimos dieses Jahr plötzlich wieder out sind. Hat sich die Generation Capri-Sonne auf die Suche nach der verlorenen Kindheit begeben, als es noch keine E-Nummern gab und wir sie im Zweifelsfall sowieso für besonders wertvolle Vitamine gehalten hätten? Oder wird in Zeiten der Weltwirtschaftskrise zunehmend darauf verzichtet, die gleichzeitige Verfügbarkeit von Freizeit und Einkommen durch den Besuch trendiger Gastronomiebetriebe und den Konsum ökologisch korrekter Produkte des heimischen Kleinkapitalismus zur Schau zu stellen? ...“ Und schon haben Sie aus dem Nichts eine Art Kolumne gezaubert. Allzu oft sollten Sie sich solche Sperenzchen freilich nicht erlauben, und in Ihrer Probezeit wohl auch nicht.
Das Licht geht wieder an, alle blinzeln, fünf Hände grabschen nach den letzten zwei Plätzchen mit Schokoladenüberzug. Der Referent (genau, es ist unser Praktikant – hat er doch super gemacht, oder? Wir sind richtig stolz auf ihn!) zupft an seiner Krawatte. „Noch Fragen?“

Samstag, 23. Mai 2009

Toleranz

Je wärmer es wird, je weiter meine eigenen Rocksäume nach oben wandern, desto erschreckender wird mir jeden Sommer bewusst, wie viele unserer Nachbarinnen nur noch von Kopf bis Fuß verhüllt vor die Tür gehen. Manchmal möchte ich sie zur Rede stellen, ob das ein Akt der Unterwerfung oder des freien Willens ist: Wem gehören eure Körper – euch, die ihr sie unliebsamen Blicken entzieht, oder euren Vätern, Onkeln, Brüdern, Ehemännern, die euch dazu zwingen? Wessen Freiheit größer ist – meine, weil ich anziehe, was ich will, oder eure, weil ihr nicht auf Schritt und Tritt von notgeilen Augen ausgezogen werdet –, brauche ich nicht zu fragen.

Aber ich bleibe stumm. Aus Respekt, wie ich mir einrede, aus weltoffener Toleranz. Wohl auch aus Feigheit. Statt dessen starren wir uns in der U-Bahn oder bei Aldi gegenseitig an. Keine Ahnung, was sie in meinem Gesicht lesen – Unverständnis? Missfallen? Neugier? Mitleid? Verzweiflung gar: vierzig Jahre Feminismus und jetzt das? –, aber ich fürchte, in ihren steht etwas ganz anderes als der Neid, den ich unter umgekehrten Vorzeichen empfinden würde.

Vielleicht sollte ich sie einfach ansprechen. Vor fünfzehn Jahren habe ich mal ein paar Monate in einer Fabrik gejobbt. Insgesamt waren wir ungefähr zwanzig Frauen, zur Hälfte Deutsche, zur Hälfte Türkinnen, von denen einige Jeans und T-Shirts, andere volle Kopftuchmontur trugen. Die Älteste war knapp 50, die Jüngste gerade 19. Die Arbeit war langweilig, aber nicht anstrengend, und in unserer Nähe dröhnten auch keine lauten Maschinen.

Was glauben Sie, womit wir uns die Zeit vertrieben haben. Wir haben tütenweise diverse Suchtmittel aus der Produktpalette von Katjes und Haribo konsumiert und geredet – und geredet: acht Stunden am Tag, fünf Tage die Woche. Nicht gerade über Gott und die Welt, aber über ziemlich viel, was uns im Alltag bewegte und begegnete, bis hin zu den Nichtsnutzen in unseren Betten, die als „mein Bekannter“ tituliert wurden, sofern es sich nicht um den angetrauten Herrn Gemahl handelte.

Selten in meinem Leben habe ich mich mit eigentlich Wildfremden so offen ausgetauscht. (Dass die meisten meiner Kolleginnen den Rest ihrer Tage zwischen Küche, Kreissaal, Moschee, Arbeitsamt und Zeitvertrag verbringen dürften, während ich nur kurz Zwischenstation machte, um Schulden bei meinen Eltern zurückzuzahlen und für das nächste Surf-Abenteuer zu sparen, ist natürlich eine andere Geschichte.)

So gern ich an jenen Frühling zurückdenke – 17 Mark pro Stunde waren damals eine Menge Geld für mich –, kommt leider immer öfter eine weniger schöne Erinnerung hoch, wenn ich im Sommer bei uns im Kiez unterwegs bin. Nämlich daran, wie ich mich mal in Shorts und Trägertop in das ultra-orthodoxe Jerusalemer Viertel Mea Sharim verirrt habe – ein Fehler, vor dem jeder Reiseführer ausdrücklich und eindringlich warnt. Wenn Blicke steinigen könnten ... Am Ende war es eine Frau, die mich am Arm packte und mir unmissverständlich bedeutete, dass meinesgleichen dort nicht erwünscht war.

Samstag, 16. Mai 2009

Hallo-Wege

In der Stadt, in der ich den Großteil meines Studiums verbracht habe, gibt es einen Fußweg, den wir den „Hallo-Weg“ nannten. Er verbindet mehrere Universitätsgebäude und die Mensa miteinander, und fast immer traf man dort Kommilitonen, die man zumindest vom Sehen kannte. Wir taten alle so, als ginge uns die ganze Grüßerei gewaltig auf den Keks, dabei war ich bestimmt nicht die Einzige, die es insgeheim schön fand, inmitten der geschäftigen Anonymität der Massenuni so viele Menschen zu haben, die sich die Zeit nahmen, kurz stehen zu bleiben und Neuigkeiten auszutauschen: Zufallsbekanntschaften, mit denen ich mal zu einer Demo gefahren war, ein Referat vorbereitet oder auf einer Party den Sinn des Lebens geklärt hatte, oder aber liebe Freunde aus der Fachschaft, der Theater-AG, der Creative-Writing-Gruppe.

Auch wenn ich es ihnen damals nie und nimmer zugestanden hätte, diesen unverbesserlichen Reaktionären, war es wohl ein ganz ähnliches Gefühl, das meinen Opa und meine Onkels beseelte, wenn sie in ihren komischen Schärpen zum Pfingstkommers ihrer Burschenschaft aufbrachen.

In seinem politischen Manifest „The Audacity of Hope“ schildert Barack Obama, warum er sich als junger Mann taufen ließ: nicht etwa, weil Gott ihm in einem brennenden Busch erschienen wäre, sondern weil er zu begreifen begann, „daß ich ohne ein eindeutiges Bekenntnis zu einer bestimmten Glaubensgemeinschaft dazu verurteilt wäre, in gewisser Weise immer abseits zu stehen – genauso frei, wie meine Mutter frei war, aber auch genauso allein, wie sie letztlich allein war“.

Mein Liebster, einer der größten Eigenbrötler, die mir je begegnet sind, kommt vom Hertha-Spiel nach Hause und schwärmt von dem Gemeinschaftserlebnis, das ihm im Olympiastadion zuteil ward. Und ich selber – was glauben Sie, wie wohlig warm mir ums Herz wird, wenn ich am Morgen eines großen Volkslaufs in eine U-Bahn einsteige, die nach Schweiß und Adrenalin stinkt, und mich von Mitgliedern meines Stammes umgeben weiß! Offensichtlich haben wir alle dieses Bedürfnis, einem wie auch immer gearteten Kollektiv anzugehören – und eben nicht nur irgendeiner konsumgesellschaftlichen Zielgruppe, die sich die Marktforschung ausgedacht hat.

Heute können die Studierenden an meiner alten Uni ihrem Herdentrieb in Kommunikationsnetzwerken wie StudiVZ, Facebook oder Twitter frönen. Altmodisch, wie ich bin, hoffe ich trotzdem, dass sie ab und zu von ihren Handys aufblicken, einander anlächeln, in die Augen sehen und „Hallo“ sagen, wenn sie zwischen Vorlesung und Mittagessen unterwegs sind.

Dienstag, 12. Mai 2009

Betrachtungen einer Unbefugten

Heute fliegt der Rosinenbomber noch einmal – der ehemalige Flughafen Tempelhof feiert sechzig Jahre Ende der sowjetischen Lebensmittelblockade. Herzlichen Glückwunsch!

Seit Tempelhof am 31. Oktober 2008 seinen Flugbetrieb einstellte, sind unsere Balkonmöbel, Fensterscheiben und Gardinen so sauber wie nie zuvor, das Wohnzimmer wird nicht mehr regelmäßig vom Höllenlärm einer Maschine im Landeanflug erschüttert, und erstmals seit Jahren leide ich in diesem Frühling kaum unter Heuschnupfen-Beschwerden. Statt vor Schreck aus dem Bett zu fallen, wenn der erste Tiefflieger des Tages über uns hinweg donnert, werden wir nun sanft vom Getöse der Müllmänner aus Morpheus‘ Armen gerissen – Verzeihung, vom Servicepersonal der Stadtreinigung, das einfach nicht einsehen will, warum andere Leute um halb sechs noch schlafen sollen, wenn sie selber in aller Herrgottsfrühe aus den Federn müssen. So weit, so prima.

Für die Schließung warb der Senat seinerzeit mit Visionen eines Freizeitgeländes nach dem Vorbild des Central oder des Hyde Park, die mein Läuferinnenherz höher schlagen ließen – auch wenn ich selbstverständlich niemals so gutgläubig war, sie für bare Münze zu nehmen. Ein halbes Jahr später ist der Zaun so hoch und so stark bewacht wie eh und je, uns Unbefugten bleibt das Betreten verboten. Zwischennutzungskonzepte beschränken sich auf fantasielose Spektakel wie die Pyromusikale oder teure Großveranstaltungen wie das Berlin-Festival und ein Reitturnier im kommenden Herbst (na, immerhin).

Während früher wenigstens die Flughafenmitarbeiter auf der Innenseite des Zauns ihre Runden drehen durften – zu unser aller großem Neid, denn ihre Trainingsbahn wurde bei Schnee und Eis immer astrein frei geräumt –, verfügt Berlin nun über eine ganz und gar menschenleere Grünfläche von der Größe eines Central oder Hyde Park. Doch wo ich blühende Wiesenlandschaften und fröhlich picknickende Menschen sehe, sehen andere 1A-Bauland im Wert von Millionen Euro. Tagtäglich werden in Deutschland um die einhundert Hektar Boden versiegelt, wieso sollte dieser kerosingetränkte Flecken deutscher Nachkriegsgeschichte davon verschont bleiben? Wenn wir Glück haben, wird das 158. Einkaufszentrum draus, dessen Türen wenigstens für alle offen stünden.

Vor kurzem flatterte uns nun das Schreiben einer „GEWOBAG Kapital- und Mieterhöhungsgesellschaft mbH“ in die Briefkästen. „Die Pläne des Berliner Senats sehen vor, in Ihrer Umgebung Luxuswohnungen zu errichten. In einem ersten Schritt planen wir, Ihre Miete zu erhöhen, um mit diesen Mitteln Ihr Mietobjekt zu sanieren“, wird darin mitgeteilt. „Wenn Sie über genügend Einkommen verfügen, würden wir uns freuen, Sie weiterhin als Mieter in unserem Hause behalten zu dürfen. Falls Sie die erforderlichen finanziellen Mittel nicht aufbringen können oder gar nicht aufbringen wollen, bitten wir Sie, ohne großes Aufsehen Ihre Wohnung zu räumen, um Platz für besser Verdienende zu schaffen.“

Bei näherem Hinsehen entpuppte sich diese Mieterinformation als Fälschung. Ihr Urheber ist eine Initiative, die „Ideen für eine sinnvolle, nicht kommerzielle Nutzung“ des Flughafengeländes sammelt und im Rahmen einer Besetzungsaktion offenbar auch verwirklichen will. Dass sie sich aber auf den ersten Blick so plausibel und realistisch las, sagt wiederum mehr über die Zustände in unserer Gesellschaft als über meine Gutgläubigkeit.

In einer bankrotten Stadt mit 14,7 Prozent Arbeitslosigkeit zu leben, in der fast jeder Zehnte am sozialen Tropf hängt, ist bei allem abgewrackten Charme, bei aller Romantik ruinierter Träume keine reine Freude – das wurde für die breite Masse der Unbefugten spätestens 2001 deutlich, als die Berliner Bäderbetriebe in der Folge des Bankenskandals schlagartig ihre Eintrittspreise verdoppelten, Dauerkarten abschafften, die Sommersaison um zwei Monate verkürzten und anfingen, Freibäder zu verpachten oder ganz zu schließen. Aber ist Gentrifizierung mit Hilfe finanzstarker Investoren wirklich ein Allheilmittel (ganz abgesehen davon, dass finanzstarke Investoren in Zeiten der Weltwirtschaftskrise zunehmend dünn gesät sind und sich andererseits die Nachfrage nach Luxuswohnungen bis auf weiteres erledigt haben dürfte)? Gibt es zwischen „arm, aber sexy“ und „reich, aber das Prekariat darf nur durch den Zaun zuschauen“ wirklich keine Hoffnung für Berlin?

Abschied
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Das Krimi-Experiment
Dies und Das
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