Nachgedacht

Montag, 28. September 2009

Welten auseinander

Kürzlich veröffentlichte unser Stadtmagazin das Ergebnis einer redaktionsinternen „Bundestagswahl“: Grüne 67,8 Prozent, Linke und SPD je 14,3 Prozent, Piraten 3,6 Prozent. Bei einer anderen Berliner Firma, von der ich gelegentlich Aufträge erhalte, kam in einer entsprechenden Umfrage jenseits der bürgerlich-wirtschaftsnahen Einheitsfront aus CDU und FDP überhaupt nur die Piratenpartei vor, durch deren Nennung sich der betreffende Kollege wohl als besonders jung geblieben und trendbewusst ausweisen wollte.

Nun will ich um Himmels willen keine Mauer wieder aufbauen und keine Eisernen Vorhänge spannen. Aber manchmal frage ich mich schon – als reines Gedankenspiel –, was passieren würde, wenn man Deutschland oder gleich ganz Europa einfach zweiteilte: In der einen Hälfte herrschte eine umwelt- und menschenfreundliche Politik gegenseitiger Toleranz und Solidarität, die sogar ihre Kriege aus „humanitären“ Beweggründen führt; in der anderen könnte der christlich-abendländisch verbrämte Neoliberalismus sich ungehemmt austoben – und jede(r) von uns darf frei entscheiden, auf welcher Seite er oder sie lieber leben möchte.

Klar, was dabei herauskäme, kann ich mir so gut vorstellen wie Sie. Im besten Fall würde es lediglich zu neuen Konflikten und Sollbruchstellen innerhalb dieser Ideologiestaaten kommen: hier die nationalchauvinistischen Anwandlungen der Linkspartei, dort die grenzenlose grüne Utopie. Ob es etwa doch sinnvoller ist, dass wir – Sie und ich, die Redaktion des Stadtmagazins und die Mitarbeiter jener Firma – uns alle irgendwie zusammenraufen und ständige Kompromisse aushandeln müssen: zwischen ökologischer Verantwortung und Wachstumswahn, Miteinander und Wettbewerb, „Ausgestrahlt“ und „Atomkraft? Ja bitte“, zwischen Multikulti und Leitkultur?

Dienstag, 18. August 2009

Amerika, du hast es besser!

Normalerweise machen wir bei den Knotenpunkten ja aus unserer politischen Meinung zwar kein Geheimnis, gehen aber auch nicht damit hausieren. Wenn jetzt aber überall die Wahlplakate aus dem Boden zu sprießen beginnen, möchte ich einmal laut und deutlich sagen dürfen: Amerika, du hast es besser!

Anfang des Jahres forderte die türkischstämmige SPD-Politikerin Lale Akgün in einem FAZ-Beitrag, Deutschland brauche nicht nur einen, sondern gleich „viele Barack Obamas“ – und meinte damit eine verstärkte politische Mitwirkung auf allerhöchster Ebene von Männern und Frauen mit Migrationshintergrund. Nun bin ich mir sicher, dass sie Barack Obama Unrecht tut, wenn sie ihn als Interessenvertreter einer ethnischen Minderheit oder gar als Quotenmenschen sieht, der nur ins Weiße Haus einziehen durfte, um Amerikas Unrecht an seiner afro-amerikanischen Bevölkerung zu sühnen.

Verstehen Sie mich bloß nicht falsch: Deutschland ist ein Einwanderungsland, und das ist gut so. Noch besser wäre es, wenn Migranten mehr Mitsprache und Teilhabe an dem Schicksal ihrer Wahl-, Zwangs- oder vorübergehenden Heimat hätten. (Dass dabei eine allgemeine Kopftuchpflicht für Frauen oder ein Schweinefleischverbot in den Kantinen herauskäme, wie manche Stammtischbrüder befürchten, sollte man zumindest nicht hoffen.) In Neuseeland etwa hatte ich sogar als ausländische Staatsbürgerin nach zweijährigem legalem Aufenthalt ein Stimmrecht bei den Parlamentswahlen.

Darin aber ist Lale Akgün vorbehaltlos zuzustimmen: Wir brauchen – nicht nur in Deutschland – Politiker, die bei den Menschen soviel Begeisterung und soviel Vertrauen erwecken wie Obama. Wir brauchen Männer und Frauen, die nicht in die Politik gehen, um Politiker zu werden, sondern um etwas zum Besseren zu verändern. Wir brauchen eine Führungselite, die sich ihre Sporen nicht als Kofferträger anderer Karrierepolitiker verdient hat, sondern auf basisdemokratischer Ebene, indem sie Bürgerinitiativen organisieren, indem sie die Menschen nach ihren Problemen fragen, statt ihnen die eigenen, am akademischen Reißbrett entworfenen Programme aufzuschwatzen.

Freitag, 3. April 2009

Überfordert

Neben den üblichen Kreditangeboten und GEZ-Mahnungen lag neulich ein sehr amtlich aussehender Umschlag in unserem Briefkasten. Nach dem ersten Schrecken sah ich, dass es doch bloß eine harmlose Wahlbenachrichtigung war. Am 26. April wird in Berlin über das Begehren der Initiative „Pro Reli“ abgestimmt, den Religionsunterricht, der seit 2006 den Status einer freiwilligen Arbeitsgemeinschaft hat, künftig wieder zum ordentlichen Schulfach an den weiterführenden Schulen zu machen. Nach der derzeitigen Regelung ist Ethik ab der siebenten Klasse Pflichtfach und kann nicht zugunsten des konfessionellen Religionsunterrichts abgewählt werden.

Ehrlich gesagt weiß ich weder, was ich davon halten, noch wie ich mich dazu verhalten soll. Und enthalte ich mich ganz – aus welchen Gründen auch immer –, zählt die Statistik mich nur zu den vielen Apathischen, Politikverdrossenen. Bin ich als überzeugte Atheistin selbstverständlich gegen Religion an staatlichen Schulen? Oder bin ich als überzeugte (Links-)Liberale dafür, dass die Schulkinder – nun, jedenfalls ihre Eltern – selber zwischen verschiedenen Formen der Wertevermittlung entscheiden dürfen? Habe ich als (freiwillig und absichtlich) kinderloser Mensch überhaupt das Recht oder die Pflicht, mich in diese Frage einzumischen? Und wenn ja, geht es mir um das Seelenheil der Sprösslinge meiner eigenen Bekannten und Verwandten oder um die Gestaltung unserer gesellschaftlichen Zukunft? Droht Deutschland der Zufall in Parallelgesellschaften oder gar, Gott bewahre, die Islamisierung? Und wenn ja, ist der obligatorische Ethikunterricht für alle ein wirksames Integrationsmittel dagegen?

Will ich unseren „Regierenden“ Klaus Wowereit für seinen arroganten Umgang mit Volksentscheiden abstrafen, die für den Senat keinerlei Verbindlichkeit haben, nach dem Motto: Lasst das Volk ruhig abstimmen, da kann gar nichts passieren, denn entscheiden tun am Ende wir. (Wohl bemerkt: Wie Sie unschwer erraten haben dürften, wenn Sie frühere Texte von mir gelesen haben, war ich für die Schließung von Tempelhof und gegen die Spreeufer-Verbauung. Aber ich bin auch für demokratische Mitsprache und gegen despotische Bevormundung.) So durfte der Volksentscheid über den Religionsunterricht nicht wie von der Bürgerinitiative gefordert zeitgleich mit den Europawahlen im Juni stattfinden, weil sich dann womöglich zu viele Leute daran beteiligt und das erforderliche Quorum etwa doch erfüllt hätten.

Oder, wo wir schon beim Abstrafen sind: für die von den Gegnern des „Pro Reli“-Begehrens verwendete Formulierung vom „Wahlzwang“, ein früher Favorit für das Unwort des Jahres? Gewiss, der Volksmund spricht von der Qual der Wahl – und Jürgen Habermas vom „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“, nun gut –, aber der Volksmund redet viel, wenn der Tag lang ist, und Jürgen Habermas noch mehr. Solange es eine Wahl (zwischen echten Alternativen) gibt, kann der Zwang doch gar nicht so groß sein. Gerade die Mitglieder der Berliner Regierungskoalition mit DDR-Vergangenheit sollten das wissen und mit derartigen Kampfbegriffen vorsichtig umgehen.

Nur, mit den echten Alternativen ist das auch wieder so eine Sache. In meinem eigenen Religionsunterricht in der westdeutschen Provinz nahmen wir damals die Gefahren von Sex, Drogen und Rock‘n‘Roll, das Elend in der Dritten Welt und die Gräuel im Dritten Reich durch. Nur Gott kam eigentlich nie vor. Für Gott waren der Pfarrer und das Elternhaus zuständig. Bei der Handvoll katholischer Mitschüler war es ein wenig anders, ihnen machte ein leibhaftiger Pater die Hölle heiß und das Leben schwer: Sie mussten lange Texte auswendig lernen, während wir Filme über schwangere Schulmädchen und afrikanische Waisen mit geschwollenen Bäuchen anschauten. Aber die weitere Handvoll „konfessionsloser“ Kinder, deren Eltern aus Gewissensgründen auf einen eigenen Ethikunterricht bestanden, hätten getrost bei uns mitmachen können, ohne auch nur in Gefahr zu geraten, christlich oder gar evangelisch indoktriniert zu werden.

Wie Sie sehen, sind die Normalbürger und Normalbürgerinnen mit solch komplexen Fragen hoffnungslos überfordert. Ein Glück also, dass sie sowieso nichts zu sagen haben – ein Glück, dass es kluge Politiker gibt, die wissen, was gut und richtig für uns ist!

Donnerstag, 29. Januar 2009

Vater werden ist nicht schwer

Neulich in der Sauna.
Sie: Mensch, und euer Knirps geht jetzt schon in die Kita! Sag mal, war der eigentlich geplant?
Er: Nö, geplant nicht ... aber wir haben damals auch nicht versucht, ihn zu verhindern.
Sie: Wie lange wart ihr denn schon zusammen?
Er: Zwei Monate.
Sie: Und wie alt bist du nochmal?
Er: Ich bin jetzt 21.

Laut einer Erhebung aus dem letzten Jahr möchte die überwältigende Mehrzahl der jungen Männer in Deutschland gerne Vater werden. Sogar unser Praktikant bekennt sich dazu, dabei ist er schwul (was natürlich kein Ausschlusskriterium, aber immerhin eine zusätzliche Schwierigkeit ist). Das Scheitern ihres Kinderwunsches wird gerne uns vom Feminismus verdorbenen, karrieregeilen und vergnügungssüchtigen Frauen, die seine Erfüllung verweigern, in die Schuhe geschoben (ja, genau in jene teuren Designer-Modelle, für deren Anschaffung wir unsere Kreditkarten hemmungslos überziehen, um dann darin auf unserem langen Marsch in die Chefetagen und Aufsichtsräte über Leichen zu stöckeln).

Ich denke, es gibt jede Menge andere Gründe. Wo sind die Firmen, die so großzügige Gehälter zahlen, dass man von einem Einkommen eine Familie ernähren kann, ohne auf die monatliche Unterstützung von Großeltern, Sozialamt und Patenonkel angewiesen zu sein? Wo sind die Arbeitgeber, die bereit sind, über flexible, familienfreundliche Regelungen der Dienstzeiten nachzudenken?

Und wo ist schließlich der Staat, der kreative Lösungsansätze fördert oder wenigstens honoriert? Eine meiner Freundinnen hat ihre Stelle ihrem Mann überlassen, als sie in Mutterschaftsurlaub ging. Mittlerweile ist ihr Babyjahr fast vorbei, und sie muss und möchte wieder arbeiten, am liebsten in Teilzeit. Allerdings möchte sie ihren Mann, der sich inzwischen in der Firma gut eingelebt hat, dort ungern wieder „vertreiben“. „Warum teilt ihr euch den Job nicht?“ frage ich. „Das wäre doch ideal für alle Beteiligten.“ – „Ja, das wäre es“, seufzt meine Freundin. „Der Chef hat auch nichts dagegen, aber es geht trotzdem nicht. Das Geld würde vorne und hinten nicht reichen, und außerdem würde dann bei unserem zweiten Kind die Höhe des Elterngeldes nur an dem halben Gehalt bemessen, das wir beide beziehen würden.“

Mittwoch, 26. November 2008

Religiöser Eifer

Richard Dawkins provoziert mal wieder. Sein Hass auf alles Metaphysische grenzt wahrlich an religiösen Eifer. Im Januar sollen Londoner Busse mit der Aufschrift „There’s probably no God. Now stop worrying and enjoy your life“ durch die Straßen von Westminster kurven. Dafür sammelt die British Humanist Association seit Ende Oktober Spenden. Ihr ursprüngliches Ziel von 5.500 Pfund, die Dawkins aus eigener Tasche zu verdoppeln versprochen hatte, wurde innerhalb von zehn Stunden erreicht. Inzwischen haben die Organisatoren gemeldet, über 100.000 Pfund beisammen zu haben, mit denen sie landesweit entsprechende Aktionen finanzieren wollen. Noch schneller war freilich der amerikanische Schwesterverband: In Washington D. C. ist die Kampagne bereits angerollt. Seit dem 19. November steht dort auf Bussen die Frohe Botschaft zu lesen: „Why believe in a god? Just be good for goodness' sake“.

Der Slogan, so Dawkins und die Initiatorin Ariane Sherine, soll zum Nachdenken, zum Diskutieren anregen und einen Kontrapunkt setzen zu der kirchlichen Erlösungspropaganda, mit der wir überall berieselt werden. Dass er ganz konziliant lautet: “Es gibt wahrscheinlich keinen Gott”, begründet Sherine als Zugeständnis an die britische Werbeaufsichtsbehörde. Außerdem lasse sich die Nichtexistenz ebenso wenig wie die Existenz eines Gottes wissenschaftlich nachweisen, sei also genauso eine Glaubensfrage, und der Atheismus verstehe sich ausdrücklich nicht als Bekenntnis zum Glauben – vielmehr eben zum Zweifeln und Hinterfragen.

Schön und gut. Mir persönlich ist diese Botschaft durchaus sympathisch, und die T-Shirts dazu sehen echt ganz cool aus. (Der Praktikant hat sich gleich eins bestellt – wir haben ihm allerdings gesagt, dass er das bitte nicht im Büro trägt. Bei uns soll sich schließlich kein Kunde vor den Kopf gestoßen fühlen. Schlimm genug, dass er mit diesem Totenschädel auf der Brust herumläuft!) Nur: Was mich an Glaubensgemeinschaften am allermeisten stört, ist zum einen der Fanatismus, mit dem sie Andersdenkende bekehren wollen, und zum anderen die unheilige Allianz aus geldlicher, weltlicher und göttlicher Macht. Muss man Atheismus wirklich predigen? Und vor allem: Sollte man für Weltanschauungen Reklame machen, als wären sie die Wochenschnäppchen eines Möbelhauses?

Mittwoch, 19. November 2008

Nächstenliebe

Buß- und Bettag – höchste Zeit für eine öffentliche Beichte, denn die folgende Geschichte lastet seit über dreißig Jahren auf meinem Gewissen: Als Grundschülerin habe ich einmal für die samstägliche Kinderbeilage unserer Tageszeitung einen Beitrag mit der Überschrift „Der Kümmeltürke“ verfasst. Darin ging es um einen Mann südländischen Aussehens, von dem meine Freundin und ich uns einbildeten, er verfolge uns fast jeden Tag auf dem Rückweg von der Schule. Die Pointe: Beim nächste Sommerfest entpuppte der unheimlich Fremde sich als Vater eines Mitschülers. (Zu jener Zeit, an jenem Ort kamen Väter zum Mittagessen nach Hause, das die Mütter pünktlich um zwölf auf den Tisch brachten.) Dunkle Haut hin oder her – er war einer von uns, ein Müller, Schulze oder Schmidt, und von nun an brauchten wir keine Angst mehr vor ihm zu haben.

Heute bin ich entsetzt und angewidert von dieser achtjährigen Beate. Woher solch dumpfes Ressentiment? In meinem linksintellektuellen Elternhaus bekam ich derartige Ausdrücke garantiert nicht zu hören, erst recht nicht an unserem damaligen Wohnort, einer kirchlichen Anstalt, die sich alle Mühe gab, ihren Insassen seelische Hygiene und christliche Nächstenliebe beizubringen. Selbst die Läden trugen dort biblische Namen, unsere Mütter kauften nicht wie der Rest der Republik bei Edeka oder Karstadt ein, sondern im Kaufhaus Ophir: ein Gelobtes Land mitten in Nordrhein-Westfalen, Galiläa als Betonwüste. Mit himmlischem Beistand wurden Alkoholiker, im offiziellen Bethler Sprachgebrauch „Brüder von der Landstraße“, trockengelegt und Männern und Frauen mit schwersten geistigen und körperlichen Behinderungen ein menschenwürdiges und gottesfürchtiges Leben ermöglicht. Im Kindergottesdienst und in der Jungschar lernten wir, dass der Herr Jesus die hungernden Waisen in Afrika genauso lieb hatte wie uns. Wenn gerade kein Erwachsener zuhörte, sagten wir mit Vorliebe „Penner“ und „Spasti“ und „Du Neger“.

Mit Migranten hatten wir in unserer heilen, frommen Welt herzlich wenig zu tun. Sowieso hießen sie damals noch „Gastarbeiter“, was uns eine seltsame Vorstellung von Gastfreundschaft vermittelt haben muss: Man lädt Besuch ein, lässt ihn die Dreckarbeit verrichten und behandelt ihn als Menschen dritter Klasse. In unserem Jahrgang war ein einziger Türke. Er hieß Ali, sprach kaum Deutsch, roch weder nach Kümmel noch sonstwie unangenehmer als die deutschen Jungen, saß ganz hinten und meldete sich nie und war irgendwann plötzlich verschwunden – keine Ahnung, ob weggezogen oder um ein Jahr zurückgestuft.

Ich könnte die Schuld auf meine Freundin schieben, deren Familie sich eher aus der Boulevardpresse als aus Zeit und Spiegel über die Weltlage zu informieren pflegte. Mag sein, dass das Schimpfwort tatsächlich von ihr stammte. Aber warum schützten mich die viel beschworenen „abendländischen Werte“ des Bildungsbürgertums, mit denen ich aufgewachsen war, nicht vor dem Bedürfnis, anderen Menschen mit soviel Spott und Argwohn zu begegnen? Meine ganz linken Freunde würden sagen, das sei typisch deutsch. Ich kenne aber auch Leute, die sagen würden, sich wegen solch einer längst verjährten Bagatelle zu schämen, sei typisch deutsch. Zur Ehre der Lokalzeitung sei übrigens hinzugefügt, dass sie meinen Text weder druckte noch mich öffentlich als Rassistin brandmarkte.

Freitag, 14. November 2008

Leerer Tisch, leerer Kopf

Nun fängt auch der Praktikant schon an, sich über den Zustand meines Schreibtisches zu mokieren! Neulich erzählte er mir doch glatt, er habe mal in einer anderen Firma gejobbt, wo sie etwas gemacht haben, was sich „Keisenn“ nannte. Das sei japanisch und bedeute soviel wie „Nur ein leerer Schreibtisch ist ein guter Schreibtisch“. „Die hätten dich gleich mit weggeräumt“, fügte er in seiner charmanten Art hinzu. Wir hätten ihm niemals das Du anbieten dürfen ...

Jedenfalls habe ich mich gleich im Internet schlau gemacht: Kaizen ist eine japanische Unternehmensphilosophie – ein Begriff freilich, der in meinen geisteswissenschaftlich geschulten (verwöhnten?) Ohren genauso pervers klingt wie corporate culture.

Aber Sie wollen keine wirtschaftsfeindliche Polemik lesen, sondern harte Fakten und handfeste Informationen. Kaizen bedeutet „Veränderung zum Besseren“ und ist als nimmer endender Prozess zu verstehen. Diesem Erfolgsrezept, welches das japanische Wirtschaftswunder in der Folge des verlorenen Weltkriegs beflügelt hat, verdanken wir laut Wikipedia Marketing-Gags wie die Karaoke-Funktion am DVD-Spieler. Neben solchen sichtbaren Innovationen geht es vor allem um eine stetige Effizienzsteigerung durch Optimierung sämtlicher Arbeitsabläufe, selbstredend immer unter der doppelten Maßgabe „Zeit ist Geld“ und „Leistung gleich Profit“. Das erfordert natürlich dauernde Kontrolle.

Hierzulande bieten pfiffige Unternehmensberater „Büro-Kaizen“ als umfassende Entrümpelungsmaßnahme an: Frühjahrsputz in den Regalen, Altlasten werden beseitigt, Langzeitablagen gnadenlos dezimiert. So weit, so einleuchtend, ja geradezu befreiend. Aber im nächsten Schritt, das lehrt mich die Erfahrung, verschwindet die Bundesligatabelle mit den Steckbildern der Vereinslogos von der Wand, weil ihrer Aktualisierung jeden Montagmorgen mindestens zehn Minuten produktive Arbeitszeit zum Opfer fallen. Bunte Schreibtischunterlagen, das gerahmte Foto von der Liebsten und das Maskottchen auf dem Computer müssen weg – sie stören die Konzentration. Dann werden die Raucherpausen abgeschafft und Toilettenbesuche auf zweimal drei Minuten pro Person und Tag reduziert.

Zum Glück ist unser Team noch so jung, dass wir keine Karteileichen, geschweige denn Skelette in den Aktenschränken haben. Mit den paar Staubmäusen, die sich unter die Heizung verkrochen haben, wird der Praktikant schon fertig. (Wie gut, dass in unseren Gefilden keine ausgewachsenen dust bunnies durch die Zimmer hoppeln wie im englischen Sprachraum, aber das nur nebenbei.) Davon mal ganz abgesehen: Hier arbeiten keine Roboter, sondern zwei erwachsene Frauen und ein zugegebenermaßen recht unerwachsener Praktikant. Wir wissen genau, dass unsere Kunden auf eine fristgerechte Lieferung guter Texte angewiesen sind, und setzen alles daran, sie nicht zu enttäuschen. Zwischendurch brauchen wir halt auch mal eine Denkpause, in der wir mit dem Stempelkissen spielen oder Löcher in die Luft starren würden, wenn uns jede andere Ablenkung verboten wäre.

Wenn ich manchmal unruhig schlafe, weil ich das Gefühl nicht loswerde, ich hätte etwas noch besser, noch schneller hingekriegt, hätte ich mir nur ein bisschen mehr Mühe gegeben –dann möchte ich das weiterhin als Neurose betrachten, statt am nächsten Morgen gleich einen Termin beim Unternehmensberater zu vereinbaren. Wissen Sie was? Mein DVD-Spieler braucht keine Karaoke-Funktion!

In Wirklichkeit geht der Spruch von den toten Indianern doch so: Nur ein zufriedener Mitarbeiter ist ein guter Mitarbeiter. Das soll nicht heißen, dass zufriedene Menschen niemals schlechte Arbeit machen. Wer sich jedoch gegängelt und schikaniert fühlt, verliert schnell jede Lust, mehr zu leisten als nur Dienst nach Vorschrift.

Aber vielleicht sollte ich den Praktikanten doch bitten, meinen Schreibtisch aufzuräumen, bevor Frau Burkhardt sich beschwert. Schließlich bin ich nur Gast in ihrem Blog.

Donnerstag, 30. Oktober 2008

Die fetten Jahre

Neulich bin ich beim Stadtbummel in eine politische Aktion geraten. Super, dachte ich, endlich mal ein paar junge Leute, die nicht den ganzen Tag chatten, Klingeltöne runterladen oder sich um ihre Karriere sorgen. Dann sah ich das Schild: „Jugend für Kernenergie“. Vor lauter Empörung habe ich zu Hause gleich meinen rostigen „Atomkraft? Nein Danke!“-Button hervorgekramt und mir an die Jacke gesteckt.

Der Praktikant zuckt die Achseln, als ich ihn am nächsten Tag zur Rede stelle, was zum Teufel mit seiner Generation los ist. „Wieso denn? Das Öl ist fast alle, mit Erdgas machen wir uns total von Russland abhängig, und diesen ganzen alternativen Quatsch, Solar- und Windkraft und so, das kannst du doch vergessen. Hierzulande jedenfalls. Wir sind schließlich eine führende Wirtschaftsnation und kein Dritte-Welt-Land. Atomkraft ist wenigstens sauber und belastet das Klima nicht. Tschernobyl und Sellafield, das sind doch uralte Geschichten, so was passiert heutzutage nicht mehr. Bei uns schon gar nicht.“ Ich schlage ihm vor, er soll sein Praktikum doch lieber bei der Atomlobby machen. „Und dann kannst du dich dort gleich als Pressesprecher bewerben!“ „Was bleibt uns denn sonst übrig?“ fragt er zurück. „Sollen wir etwa in Sack und Asche leben, nur weil ihr alles abgewirtschaftet und die ganzen Ressourcen verbraucht habt?“

Wir doch nicht. Immerhin gehören wir bekanntlich zur ersten Alterskohorte der Nachkriegszeit, die einen niedrigeren Lebensstandard hat als die eigenen Eltern. Bei jedem Besuch steckt mir mein Vater immer noch mindestens das Fahrgeld zu – als sie so alt waren wie ich, hatten sie schon ein Haus gekauft. Den Praktikanten rührt das nicht. „Und wenn schon. Euch geht’s doch gut, ihr musstet nicht mal Studiengebühren zahlen, und wenn ihr mal in Rente geht, kriegt ihr wenigstens noch ein bisschen Kohle vom Staat. Und was euer ‘Umweltbewusstsein’ angeht” – die Anführungszeichen sind seine hochgezogenen Augenbrauen, die sichtlich vor Sarkasmus prickeln – „Mann, ihr seid so was von heuchlerisch. Immer Wasser predigen von wegen ökologischen Fußabdruck verkleinern, Heizung runter, Licht aus, Computer abschalten und bloß nicht immer alles ausdrucken, und dann fliegst du nach Antalya, nur um an einem Marathon teilzunehmen!“

Ertappt. Dafür haben wir kein Auto, essen kein Fleisch, kaufen fast alles andere im Bioladen und heizen zu Hause wirklich erst dann, wenn kein noch so dicker Pullover mehr ausreicht. Im letzten Sommer haben wir sogar den Versuch unternommen, nicht nur Wasser zu predigen, sondern auch zu trinken, indem wir mit der Bahn statt mit dem Billigflieger zu den Schwiegereltern nach Südengland gereist sind. Dass uns dieses Vergnügen ungefähr viermal soviel kostete, mussten wir halt verschmerzen – das war uns unser gutes Öko-Gewissen wert. Bloß entpuppte sich der CityNightExpress, den die Bahn als hochmoderne Alternative für Dienstreisen anpreist, als osteuropäischer Bummelzug und traf in Berlin bereits mit über einer Stunde Verspätung ein. In Hannover fuhr er dann überhaupt nicht mehr weiter, was der Zugchef offenbar vollkommen normal fand und es nicht einmal für notwendig hielt, seine Fahr-„Gäste“ (unter Gastfreundschaft stelle ich mir was anderes vor, aber das nur nebenbei) über die Ursachen aufzuklären. „Wir warten auf die Kurswagen aus Kopenhagen, keine Ahnung, wann die kommen“, erklärte mir der Schaffner lakonisch. „Wenn Sie’s eilig haben, können Sie ja in vierzig Minuten mit dem ICE weiterfahren.“ Die zwei Stunden, die wir dann in Köln auf den nächsten Anschluss nach Brüssel warten mussten – den gebuchten hatten wir natürlich verpasst –, verbrachte ich in der Warteschlange im Reisezentrum, um unsere Fahrkarten von dem ganz und gar nicht hilfsbereiten Personal umschreiben zu lassen.

Die fünfstündige Bahnverbindung Köln–London kann ich übrigens absolut empfehlen (wenn’s im Tunnel nicht gerade mal wieder brennt oder die Eurostar-Mitarbeiter streiken). So macht Reisen Spaß! Aber ob wir uns und unserem Konto diesen Nachtzug ein zweites Mal antun, müssen wir uns noch schwer überlegen. Der Praktikant hat wohl nicht ganz Unrecht, eine solche Haltung als wenig konsequent zu kritisieren.

Montag, 27. Oktober 2008

Einheitsbrei

Manche Defizite werden einem erst bewusst, wenn man nach etwas verlangt, das es schon lange nicht mehr gibt. Mir ging heute auf, dass man in meinem Viertel zwar an jeder Ecke drei Apotheken, fünf Coffee Shops und acht Bekleidungsläden findet (ob da ein Zusammenhang besteht, entzieht sich meiner Kenntnis), die Auswahl in anderen Branchen aber teilweise sehr eingeschränkt ist.

Wenn ich zum Beispiel verreisen will, bin ich ziemlich aufgeschmissen. Das ist mir aber erst heute bewusst geworden. Zwei Reisebüros in meiner direkten Nachbarschaft existieren schon länger nicht mehr, und ein drittes hat sich ganz auf Reisen in die Türkei spezialisiert. Da ich in den letzten Jahren die meisten meiner Reisen übers Internet gebucht habe, ist mir dieser Mangel bis heute nicht aufgefallen. Auf der Jagd nach dem günstigsten Schnäppchen habe ich für eine einwöchige Reise oft mindestens noch mal so viel Zeit damit zugebracht, die Internetangebote zu vergleichen. Am Ende war ich dann tatsächlich urlaubsreif. Ob ich wirklich immer billiger und besser als im Reisebüro um die Ecke weggekommen bin, kann ich nicht mal sagen, denn dazu fehlen mir die Vergleiche. Auf jeden Fall habe ich sicher selbst mit dazu beigetragen, dass bestimmte Dienstleistungen in meinem Viertel nur noch eingeschränkt zu erhalten sind.

Auf der Suche nach einer persönlichen Beratung und Katalogen, in denen ich in Ruhe stöbern kann, fiel mir tatsächlich nur ein einziges noch bestehendes Reisebüro ein. Zwei andere entdeckte ich später noch eher zufällig. Drei Reisebüros gegenüber gefühlten hundert Klamottenläden, fünfzig Coffee Shops und dreißig Apotheken. Das ist doch eine höchst seltsame Verteilung, oder?

Ich glaube, ich werde in Zukunft wieder öfter in realen Läden einkaufen und mit echten Menschen verhandeln als immer nur in Onlineshops zu stöbern. So bequem es auch ist, an einem verregneten Sonntagnachmittag vom heimischen Sofa aus den Flug in die Sonne zu buchen und damit neben dem Reiseveranstalter meistens ein Reisebüro irgendwo am anderen Ende der Republik zu beglücken, so schön fühlt es sich doch auch an, die Dienstleister in der direkten Nachbarschaft zu unterstützen. Nur so kann ich zu einer lebendigen Stadtkultur beitragen und ein Angebot jenseits großer Ketten und Kaufhäuser am Leben erhalten.

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