Aus dem Kiez

Mittwoch, 3. November 2010

Kultur und Bildung - Anmerkungen zur Zukunft des Altonaer Museums

In meinem Heimatort gab es ein Atelier, in dem regelmäßig wechselnde Ausstellungen stattfanden. Im Obergeschoss des kleinen, alten Hauses lebte ein Graphiker und Künstler mit seiner Familie, im Erdgeschoss befanden sich seine Werkstatt und die Ausstellungsräume. Ich liebte die Atmosphäre in den kleinen hellen Räumen, in denen eine andächtige Ruhe herrschte. Besonders das alte Kinderspielzeug hatte es mir angetan. Ich staunte über alte Murmelbahnen, Blechspielzeug und Porzellanpuppen. Je älter ich wurde, desto mehr begriff ich auch den Witz im Werk des Graphikers, der immer wieder eigene Arbeiten präsentierte. Kunst gehörte ganz selbstverständlich zum Alltag seiner Familie dazu. In jedem Winkel des Hauses konnte man Skulpturen, Gemälde und andere Objekte entdecken. Ich liebte dieses Haus mit seinen alten, knarzenden Dielen (bei uns gab es nur Auslegeware auf Betonböden), den verzierten Holztüren und den vielen alten Dingen zum Anschauen. Mein Vater war mit dem Künstler befreundet, und daher gab es nach der Kunst regelmäßig Kaffee und Kuchen im gemütlichen Wohnzimmer der Familie, der Hausherr, ein Sachse wie mein Vater, rauchte Pfeife und erzählte uns die Geschichten, die man in der Ausstellung nicht erfuhr: Wie er auf teilweise abenteuerlichen Wegen all diese Kunst- und Kulturgegenstände zusammengetragen hatte. Was die Künstler so für Menschen waren. Und wie seine Putzfrau eine Collage, an der er die ganze Nacht gearbeitet hatte, wegwarf, weil sie glaubte, das zerschnittene Papier sei Müll.

Mir wurde erst viele Jahre später bewusst, wie sehr mich die Besuche in diesem Künstlerhaus geprägt haben. Ich wohne heute selbst in einer Wohnung mit knarzenden Dielenböden, umgeben von Gegenständen, die an vergangene Zeiten erinnern. Und ich besuche gerne Museen und gehe der Vergangenheit auf den Grund. Es muss nicht immer die große Kunst dieser Welt sein, die uns prägt. Gewiss, auch die Mona Lisa hat mich beeindruckt („Och, so winzig!“), Monets Seerosen liebte ich sehr, vor Rodins Skulpturen staunte ich ehrfürchtig und Picassos Guernica bewegte mich. Alles Kunstwerke, die ich im Original sehen konnte, in Museen überall in Europa. Ich bin sehr froh, dass das möglich ist, und all diese Werke bis heute der Öffentlichkeit zugänglich sind. Aber auch und gerade in den kleinen Heimatmuseen lerne ich immer wieder sehr anschaulich, wie die Menschen früher gelebt haben, und warum vieles noch heute in unserer Gesellschaft so ist wie es ist. Wie kann ich die Bedeutung des Hamburger Hafens für diese Stadt ermessen, wenn ich mir nicht klar mache, wie sehr der Fischfang diese Stadt seit Jahrhunderten geprägt hat? Warum sollte ich Gold und Prunk im Hamburger Michel nicht kitschig finden, wenn ich noch nie etwas von der Epoche des Barock gehört habe?

An jeder Form von Kunst erkennen wir gesellschaftliche und politische Entwicklungen – sofern wir denn in der Lage sind, sie zu deuten. Kunst muss verstanden werden, sonst steht man hilflos davor und kann zu Recht fragen: „Ist das Kunst oder kann das weg?“ Kinder sind von Natur aus sehr wissbegierig. Wenn man sie lässt, können sie innerhalb kurzer Zeit enorm viel lernen. In der Kindheit wird die Basis für ein ganzes Leben gelegt, wer jetzt nicht Lesen und Rechnen lernt, wird es immer schwer haben. Wer jetzt nicht versteht, in was für eine Gesellschaft er geboren wurde, welche Werte und Traditionen sie prägen, wird später mit plumpen Vorurteilen und dumpfer Abwehr alles ablehnen, was ihm fremd und unverständlich erscheint. Kurzum: eine gute Bildung ist das Fundament jeder gut funktionierenden, demokratischen Gesellschaft. Ohne Bildung kann ich mich nicht einmischen, ich kann Gut nicht von Böse unterscheiden, ich kann mich und meine Familie nicht auf angemessene, für mich befriedigende Weise ernähren. Bildung ist die Zukunft eines jeden Landes, genau darum ist sie einer der wichtigsten Eckpfeiler in vielen Entwicklungsländern auf dem Weg hinaus aus der Armut.

Nur in Deutschland scheint das niemand so richtig verstanden zu haben. Hier wird ausgerechnet an der Bildung an allen Ecken und Enden gespart. Das fängt in den Schulen an und hört bei Museen und Theatern noch lange nicht auf. Ein Prunkbau wie die Elbphilharmonie, von dem nur eine kleine Elite der Stadt profitieren wird, ist den Hamburger Politikern wichtiger als der Zugang zu den Öffentlichen Bücherhallen oder den Schätzen der Museen. Sicher, gemessen an den Besucherzahlen, ist das Altonaer Museum kein Publikumsmagnet. Aber sollte man nicht mal fragen, woran das eigentlich liegt, statt so ein altes Haus einfach zu schließen? Nun ist der Plan der Schließung ja zum Glück vom Tisch – aus welchen taktischen Überlegungen heraus auch immer. Aber damit ist ja das Problem an sich noch nicht beseitigt. Der Erhalt des Museums kostet Geld. Wird die Stadt bereit sein, zu investieren? Werden die Verantwortlichen erkennen, dass die Zukunft dieser Stadt vor allem davon abhängt, wie viele gut gebildete Menschen in ihr leben? Letzten Endes ist doch auch die ganze Integrationsdebatte eine Frage der Bildung. Türken mit einer guten Berufsausbildung sind deutlich besser integriert als jene, die nicht mal einen Hauptschulabschluss haben. Und der zunehmende Fachkräftemangel im Land kann auch nur durch eine solide Ausbildung aller Kinder behoben werden. Kulturelle Bildung sollte da ganz selbstverständlich dazu gehören. Und das nicht nur, weil es viel Spaß machen kann, in alten Schätzen zu stöbern und sich spielerisch auf die Suche nach den eigenen Wurzeln zu begeben.

Mittwoch, 13. Januar 2010

Baumbesetzung in Altona

Ich habe es gern gemütlich. Kerzen, heißer Tee, schöne Musik, mit einer kuscheligen Decke über den Beinen auf dem Sofa sitzen und lesen, selbstgebackene Plätzchen essen und dem Schneetreiben vor dem Fenster zuschauen – das ist für mich der perfekte Winterabend. Die Heizung gibt behagliche Wärme ab, die Leselampe verbreitet angenehmes Licht.

Doch gelegentlich wird mir klar, dass diese warme Behaglichkeit nicht selbstverständlich ist und ihren Preis hat. Die Energie für Strom und Heizung muss her. Wo genau sie herkommt, war mir viele Jahre mehr oder weniger egal. Ich bin zwar mit dem Slogan „Atomkraft? Nein danke!“ aufgewachsen, aber im Alltag habe ich mich lange Zeit nicht darum gekümmert, woher der Strom eigentlich kommt, mit dem ich meine Lampen, den Laptop, den Herd betreibe. Vielleicht lag das daran, dass ich keine Wahlmöglichkeiten hatte. Der Strom kam vom Hamburger Elektrizitätswerk, fertig. Ökostrom war ein bisschen teurer, aber war es das wirklich wert? Hm. Ich sparte die paar Mark lieber.

Dann begann die Ära der privaten Stromanbieter, und auf einmal war alles in Bewegung. Plötzlich häuften sich Beschwerden von Verbrauchern wegen überteuerter Preise und schlechtem Service. Stromanbieter sind auf einmal nicht mehr die Städte und Gemeinden, sondern große, mächtige Konzerne, die mit uns kleinen Leuten offenbar machen können, was sie wollen. Die Politik schaut hilflos zu. Genauso wie ich auf meinem Sofa unter meiner warmen Wolldecke. Dass sich in Hamburg ein gigantischer Umweltskandal anbahnte, habe ich jahrelang ignoriert. Moorburg ist ja auf der anderen Seite der Elbe, gefühlt weit weg. Und doch in meiner direkten Nachbarschaft. Und jetzt plötzlich betrifft mich der von Vattenfall geplante Bau des Kohlekraftwerks sogar ganz persönlich. Für eine Fernwärmetrasse, die auf einer Strecke von 12 Kilometern quer durch Hamburg gezogen wird, sollen über 300 zum Teil große und sehr alte Bäume gefällt werden, viele davon im sogenannten Altonaer Grünzeug, einer Reihe kleiner Parks, die sich direkt vor meiner Haustür befinden. Ich bin bestürzt. Und zornig auf eine grüne Regierung, die mit der Zustimmung zu diesem Projekt alle Ideale verraten hat, die ich mit dieser Partei verbinde.

Baumbesetzung

Doch während ich weiter gemütlich auf meinem Sofa sitze, sind andere längst aktiv geworden. Jürgen und Olivia, Anwohner des Gählerparks, besetzten einen der Bäume und bauten sich in seiner Krone ein Baumhaus, in dem sie seit Anfang Dezember leben. Auf Transparenten und kleinen Schildern machen sie auf den Umweltskandal aufmerksam, der sich hier anbahnt und ohne Zustimmung der Bevölkerung eingeleitet wurde. Ich ging kurz vor Weihnachten in strömendem Regen an dem Baum vorbei und dachte damals: Respekt, aber die werden sicher nicht lange durchhalten. Umso erstaunter war ich, als ich im neuen Jahr feststellte, dass die Baumbesetzer nicht nur immer noch da sind – sie haben vielmehr Verstärkung von Robin-Wood-Aktivisten erhalten. Mittlerweile gibt es fünf Baumhäuser im Gählerpark, in denen die Aktivisten leben und jeder Witterung trotzen.

Gestern sprach ich kurz mit Jürgen, der von Anfang an dabei ist. Er machte einen sehr energiegeladenen, fröhlichen Eindruck. "Wir kriegen so viel Unterstützung von den Leuten aus der Nachbarschaft, das ermutigt uns, durchzuhalten", sagte er begeistert. Menschen wie Jürgen und Olivia haben wir es zu verdanken, dass in dieser Welt immer wieder Korrekturen vorgenommen werden, dass Politik und Wirtschaft zum Umdenken gezwungen werden, dass nicht immer nur die Großen gewinnen. Ich schäme mich ein wenig, dass ich wieder zuhause in meiner warmen Wohnung sitze und hier jeden Komfort genieße, während da draußen Menschen frieren und Entbehrungen in Kauf nehmen, damit auch mein Leben gut bleibt. Ich habe Jürgen gefragt, was ich tun kann, was wir alle tun können, um den Bau der Fernwärmetrasse (und damit den Bau des gesamten Kohlekraftwerks) zu verhindern. „Beteiligt euch an unseren Aktionen“, sagte er. Und mit einem fröhlichen Grinsen setzte er hinzu: „Du kannst dich auch an einen der Bäume ketten, wenn er gefällt werden soll.“

Ich fange erst mal klein an und berichte in diesem Blog über die Baumbesetzungen. Und vielleicht greife ich sogar Jürgens Vorschlag auf, wer weiß. Es ist an der Zeit, das warme Sofa zu verlassen und Menschen wie Jürgen und Olivia zu unterstützen - damit wir alle in einer besseren Welt leben können.

Informationen über das Kohlekraftwerk in Moorburg:
Spiegel online
taz
wikipedia
Robin Wood
BUND

Informationen über die Fernwärmetrasse und Baumbesetzungen:
Bürgerinitiative
Radio Hamburg
Robin Wood
Hamburger Abendblatt

Samstag, 23. Mai 2009

Toleranz

Je wärmer es wird, je weiter meine eigenen Rocksäume nach oben wandern, desto erschreckender wird mir jeden Sommer bewusst, wie viele unserer Nachbarinnen nur noch von Kopf bis Fuß verhüllt vor die Tür gehen. Manchmal möchte ich sie zur Rede stellen, ob das ein Akt der Unterwerfung oder des freien Willens ist: Wem gehören eure Körper – euch, die ihr sie unliebsamen Blicken entzieht, oder euren Vätern, Onkeln, Brüdern, Ehemännern, die euch dazu zwingen? Wessen Freiheit größer ist – meine, weil ich anziehe, was ich will, oder eure, weil ihr nicht auf Schritt und Tritt von notgeilen Augen ausgezogen werdet –, brauche ich nicht zu fragen.

Aber ich bleibe stumm. Aus Respekt, wie ich mir einrede, aus weltoffener Toleranz. Wohl auch aus Feigheit. Statt dessen starren wir uns in der U-Bahn oder bei Aldi gegenseitig an. Keine Ahnung, was sie in meinem Gesicht lesen – Unverständnis? Missfallen? Neugier? Mitleid? Verzweiflung gar: vierzig Jahre Feminismus und jetzt das? –, aber ich fürchte, in ihren steht etwas ganz anderes als der Neid, den ich unter umgekehrten Vorzeichen empfinden würde.

Vielleicht sollte ich sie einfach ansprechen. Vor fünfzehn Jahren habe ich mal ein paar Monate in einer Fabrik gejobbt. Insgesamt waren wir ungefähr zwanzig Frauen, zur Hälfte Deutsche, zur Hälfte Türkinnen, von denen einige Jeans und T-Shirts, andere volle Kopftuchmontur trugen. Die Älteste war knapp 50, die Jüngste gerade 19. Die Arbeit war langweilig, aber nicht anstrengend, und in unserer Nähe dröhnten auch keine lauten Maschinen.

Was glauben Sie, womit wir uns die Zeit vertrieben haben. Wir haben tütenweise diverse Suchtmittel aus der Produktpalette von Katjes und Haribo konsumiert und geredet – und geredet: acht Stunden am Tag, fünf Tage die Woche. Nicht gerade über Gott und die Welt, aber über ziemlich viel, was uns im Alltag bewegte und begegnete, bis hin zu den Nichtsnutzen in unseren Betten, die als „mein Bekannter“ tituliert wurden, sofern es sich nicht um den angetrauten Herrn Gemahl handelte.

Selten in meinem Leben habe ich mich mit eigentlich Wildfremden so offen ausgetauscht. (Dass die meisten meiner Kolleginnen den Rest ihrer Tage zwischen Küche, Kreissaal, Moschee, Arbeitsamt und Zeitvertrag verbringen dürften, während ich nur kurz Zwischenstation machte, um Schulden bei meinen Eltern zurückzuzahlen und für das nächste Surf-Abenteuer zu sparen, ist natürlich eine andere Geschichte.)

So gern ich an jenen Frühling zurückdenke – 17 Mark pro Stunde waren damals eine Menge Geld für mich –, kommt leider immer öfter eine weniger schöne Erinnerung hoch, wenn ich im Sommer bei uns im Kiez unterwegs bin. Nämlich daran, wie ich mich mal in Shorts und Trägertop in das ultra-orthodoxe Jerusalemer Viertel Mea Sharim verirrt habe – ein Fehler, vor dem jeder Reiseführer ausdrücklich und eindringlich warnt. Wenn Blicke steinigen könnten ... Am Ende war es eine Frau, die mich am Arm packte und mir unmissverständlich bedeutete, dass meinesgleichen dort nicht erwünscht war.

Dienstag, 12. Mai 2009

Betrachtungen einer Unbefugten

Heute fliegt der Rosinenbomber noch einmal – der ehemalige Flughafen Tempelhof feiert sechzig Jahre Ende der sowjetischen Lebensmittelblockade. Herzlichen Glückwunsch!

Seit Tempelhof am 31. Oktober 2008 seinen Flugbetrieb einstellte, sind unsere Balkonmöbel, Fensterscheiben und Gardinen so sauber wie nie zuvor, das Wohnzimmer wird nicht mehr regelmäßig vom Höllenlärm einer Maschine im Landeanflug erschüttert, und erstmals seit Jahren leide ich in diesem Frühling kaum unter Heuschnupfen-Beschwerden. Statt vor Schreck aus dem Bett zu fallen, wenn der erste Tiefflieger des Tages über uns hinweg donnert, werden wir nun sanft vom Getöse der Müllmänner aus Morpheus‘ Armen gerissen – Verzeihung, vom Servicepersonal der Stadtreinigung, das einfach nicht einsehen will, warum andere Leute um halb sechs noch schlafen sollen, wenn sie selber in aller Herrgottsfrühe aus den Federn müssen. So weit, so prima.

Für die Schließung warb der Senat seinerzeit mit Visionen eines Freizeitgeländes nach dem Vorbild des Central oder des Hyde Park, die mein Läuferinnenherz höher schlagen ließen – auch wenn ich selbstverständlich niemals so gutgläubig war, sie für bare Münze zu nehmen. Ein halbes Jahr später ist der Zaun so hoch und so stark bewacht wie eh und je, uns Unbefugten bleibt das Betreten verboten. Zwischennutzungskonzepte beschränken sich auf fantasielose Spektakel wie die Pyromusikale oder teure Großveranstaltungen wie das Berlin-Festival und ein Reitturnier im kommenden Herbst (na, immerhin).

Während früher wenigstens die Flughafenmitarbeiter auf der Innenseite des Zauns ihre Runden drehen durften – zu unser aller großem Neid, denn ihre Trainingsbahn wurde bei Schnee und Eis immer astrein frei geräumt –, verfügt Berlin nun über eine ganz und gar menschenleere Grünfläche von der Größe eines Central oder Hyde Park. Doch wo ich blühende Wiesenlandschaften und fröhlich picknickende Menschen sehe, sehen andere 1A-Bauland im Wert von Millionen Euro. Tagtäglich werden in Deutschland um die einhundert Hektar Boden versiegelt, wieso sollte dieser kerosingetränkte Flecken deutscher Nachkriegsgeschichte davon verschont bleiben? Wenn wir Glück haben, wird das 158. Einkaufszentrum draus, dessen Türen wenigstens für alle offen stünden.

Vor kurzem flatterte uns nun das Schreiben einer „GEWOBAG Kapital- und Mieterhöhungsgesellschaft mbH“ in die Briefkästen. „Die Pläne des Berliner Senats sehen vor, in Ihrer Umgebung Luxuswohnungen zu errichten. In einem ersten Schritt planen wir, Ihre Miete zu erhöhen, um mit diesen Mitteln Ihr Mietobjekt zu sanieren“, wird darin mitgeteilt. „Wenn Sie über genügend Einkommen verfügen, würden wir uns freuen, Sie weiterhin als Mieter in unserem Hause behalten zu dürfen. Falls Sie die erforderlichen finanziellen Mittel nicht aufbringen können oder gar nicht aufbringen wollen, bitten wir Sie, ohne großes Aufsehen Ihre Wohnung zu räumen, um Platz für besser Verdienende zu schaffen.“

Bei näherem Hinsehen entpuppte sich diese Mieterinformation als Fälschung. Ihr Urheber ist eine Initiative, die „Ideen für eine sinnvolle, nicht kommerzielle Nutzung“ des Flughafengeländes sammelt und im Rahmen einer Besetzungsaktion offenbar auch verwirklichen will. Dass sie sich aber auf den ersten Blick so plausibel und realistisch las, sagt wiederum mehr über die Zustände in unserer Gesellschaft als über meine Gutgläubigkeit.

In einer bankrotten Stadt mit 14,7 Prozent Arbeitslosigkeit zu leben, in der fast jeder Zehnte am sozialen Tropf hängt, ist bei allem abgewrackten Charme, bei aller Romantik ruinierter Träume keine reine Freude – das wurde für die breite Masse der Unbefugten spätestens 2001 deutlich, als die Berliner Bäderbetriebe in der Folge des Bankenskandals schlagartig ihre Eintrittspreise verdoppelten, Dauerkarten abschafften, die Sommersaison um zwei Monate verkürzten und anfingen, Freibäder zu verpachten oder ganz zu schließen. Aber ist Gentrifizierung mit Hilfe finanzstarker Investoren wirklich ein Allheilmittel (ganz abgesehen davon, dass finanzstarke Investoren in Zeiten der Weltwirtschaftskrise zunehmend dünn gesät sind und sich andererseits die Nachfrage nach Luxuswohnungen bis auf weiteres erledigt haben dürfte)? Gibt es zwischen „arm, aber sexy“ und „reich, aber das Prekariat darf nur durch den Zaun zuschauen“ wirklich keine Hoffnung für Berlin?

Samstag, 14. Februar 2009

Die schwedische Eroberung

Der Hamburger Stadtteil Altona hat eine sehr spannende, wechselvolle Geschichte, in der besonders die Skandinavier eine große Rolle spielen. So stand Altona bis 1864 unter dänischer Herrschaft, und mit den Schweden gab es etliche kriegerische Auseinandersetzungen, die nicht gut für Altona ausgingen. 1713 ließ ein schwedischer General ganz Altona systematisch Haus für Haus niederbrennen und vernichtete damit ein historisch gewachsenes Stadtbild.

Jetzt kommen die Schweden wieder – doch statt Angst und Schrecken lösen sie Begeisterung bei vielen Altonaern aus. Seit Monaten hält sich das Gerücht, dass IKEA mitten in Altona, in der Großen Bergstraße eine neue Filiale errichten will. Diese Woche fiel die Entscheidung in der deutschen Zentrale, und die Zustimmung der Konzernzentrale in den Niederlanden soll angeblich nur noch eine Formsache sein.

Wenn die Entscheidung positiv ausfällt, so entsteht in Altona IKEAS erste deutsche Innenstadt-Filiale, die natürlich ein etwas anderes Konzept haben wird als die Shops mitten auf der grünen Wiese. Denn in der Stadt gibt es weder Platz für riesige Parkplätze, noch wird man in der Lage sein, ein deutlich erhöhtes Verkehrsaufkommen zu bewältigen. IKEA setzt in seiner City-Filiale also auf Kleinmöbel und Accessoires. Eine SB-Möbelhalle wird es nicht geben, große Möbel müssen die Kunden sich liefern lassen.

Was ich gut an dieser Nachricht finde: Endlich geht es mal voran mit der Großen Bergstraße, die ein ruhmloses Dasein als heruntergekommene Schmuddelecke führt – und das, wo sie einst Deutschlands erste Fußgängerzone und absolute Vorzeigeadresse war. Doch das scheint fast so lange her zu sein wie der Schwedenbrand. Mittlerweile wird die Straße zum einen von Billigramschläden und zum anderen von zwei völlig verwahrlosten Betonklötzen dominiert. Das „Forum Altona“, in dessen seit Jahren leerstehenden Läden mittlerweile zahlreiche Künstler und Stadtteilprojekte Raum gefunden haben, wird komplett umgebaut und erhält nicht nur neue Shops (die Rede ist u.a. von zwei Supermärkten), sondern will auch zukünftig Raum für Kunstprojekte schaffen. Und das ehemalige Karstadt-Gebäude (Frappant), das ebenfalls seit Jahren verfällt und ein besonders schauriges Mahnmal an architektonische Verfehlungen der 70er Jahre darstellt, soll nun also abgerissen werden und einem IKEA-Neubau weichen.
Beide Konzepte bringen auf jeden Fall Leben in die Straße, von dem auch die umliegenden Einzelhändler profitieren werden. Das ist die gute Nachricht.

Dennoch weiß ich nicht, was ich davon halten soll. Seit Jahren werden Diskussionen über die Zukunft der Großen Bergstraße geführt. Immer mal wieder gab es kleine, erfolglose Versuche, die Straße zu sanieren, die unterm Strich jedoch nur Geld gekostet haben (man denke nur an die diversen Umbauten des Straßenverlaufs von der reinen Fußgängerzone in die teilweise befahrbare Straße). Viele Anwohner wünschten sich bei Befragungen mehr Grün, Spielplätze, Parkanlagen, Wohnkonzepte für Jung und Alt, oder gar an Stelle des alten Karstadt-Gebäudes ein neues Schwimmbad als Ersatz für das Bismarckbad. Was bleibt von diesen Wünschen und Bedürfnissen? Herzlich wenig. IKEA müsste sich schon etwas ganz Besonderes einfallen lassen, um ein optisch ansprechendes Gebäude zu schaffen, das für die Menschen, die hier im Viertel leben, auch äußerlich eine echte Bereicherung wäre. Und auch die Pläne für das Neue Forum sehen nicht wirklich revolutionär aus. Wie sollten sie auch – schließlich hat man dieselben Architekten beauftragt, die vor dreißig Jahren diesen Betonklotz errichtet haben.
Nicht zuletzt ist in den letzten Jahren eine spannende Subkultur in den verfallenen Gebäuden entstanden – Ateliers, Cafés, Musikclubs, die das Viertel in jedem Fall bereichert haben. Die meisten dieser Projekte werden kein Geld haben, um in den umgebauten Gebäuden bleiben zu können – auch, wenn von der Stadt betont wird, dass eine Kulturetage im Neuen Forum vorgesehen ist. Aber da hätte man sicher noch andere, bessere Lösungen finden können. Konsum geht also wieder einmal vor Kultur. Das ist schade.

Ich bin jetzt aber erst mal gespannt, wie sich das Bild der Großen Bergstraße verändern wird. Ich kann mir und allen anderen Nachbarn jedenfalls nur wünschen, dass die neueste (schwedische) Eroberung dieses Stadtteils nicht wieder zu unserem Nachteil sein wird. Von Besetzungen und Verwüstungen haben wir Altonaer nämlich allmählich genug.

Sonntag, 30. November 2008

Biotop

Bei uns in der Nähe gibt es einen Park, der auf Initiative Turnvater Jahns vom einstigen kurfürstlichen Jagdgelände zur Leibesertüchtigung der Unterschichten umfunktioniert wurde und inzwischen regelmäßig in den Brennpunkt gerät, wenn die Medien sich wieder mal für Berliner Problembezirke interessieren: Bandenkriege zwischen rivalisierenden schwarzafrikanischen und arabischen Drogenhändlern, Kripo-Einsätze, im Februar 2006 wurde hier auch mal ein Polizist erschossen und das Gelände war tagelang zwecks Tatortsicherung abgesperrt. Ab und zu hört man von Nachbarschaftsaktionen besorgter Eltern, die den Störenfrieden ohne viel Erfolg ins Gewissen reden. Und am Rande des Volksparks wird derzeit ein Hindu-Tempel gebaut.

Wer die Hasenheide heute zum Freizeitsport nutzen will, muss früh aufstehen: Im Morgengrauen tummeln sich hier Jogger wie ambitionierte Läufer. Türkische Frauen, in Begleitung von Ehegatten oder Freundinnen und auch an brütend heißen Tagen von Kopf bis Fuß verhüllt, nur die Arme dürfen frei schwingen, legen ein munteres Tempo vor. Auf den Grünflächen spielen ein paar Männer Golf, oben auf der Rixdorfer Höhe, einem Trümmerberg mit Panoramablick - Minarett, Fernseh- und allerlei Kirchtürme - übt jemand Tai-chi-Sequenzen. Die Herzlichkeit einer Spaziergängerin, die bei Wind und Wetter fünf oder sechs Hunde ausführt, entschädigt mich jeden Morgen aufs Neue für die schadenfrohen Sprüche anderer Herrchen und Frauchen: "Die tut nichts, die will nur spielen!" - "Komisch, das hat Strolchi ja noch nie gemacht!" Oder mein absoluter Favorit: "Sie dürfen ihm nicht zeigen, dass Sie Angst haben!" (Kaum zu glauben, aber wahr: In England entschuldigen sich die Besitzer, wenn ihr Wauwau einen anfällt - manchmal jedenfalls. Freilich bin ich auch dort schon gebissen worden. Dass Hunde die "grüneren" Haustiere sein sollen, weil Katzenstreu als Sondermüll entsorgt werde muss, stimmt mich nicht wirklich versöhnlicher.)

Hartz-IV-Brigaden rücken mit Schubkarren an und schleppen für einen Euro pro Stunde Schaufeln und Eimer durch den Park. Früher stolzierten zwischendrin manchmal Pfauen, aber neuerdings sind die Tore des kleinen Tierparks über Nacht abgeschlossen. Dafür wurden in diesem Sommer australische Trauerschwäne auf dem Tümpel ausgesetzt. Eichhörnchen turnen durch die Bäume, und auch den einen oder anderen Fuchs habe ich schon gesehen.

Hier habe ich schon manche nette Laufbekanntschaft geschlossen: mit einem ehemaligen Triathleten, der inzwischen Mitte Siebzig ist und immer noch jedes Jahr einen Marathon läuft; mit einem Ur-Kreuzberger aus "Herr Lehmann"-Zeiten, der irgendwann beschlossen hat, die durchzechten Nächte mit intensivem Training abzurunden. (Beim Berlin-Marathon ist es mir sogar schon passiert, dass mich ein Zuschauer anfeuerte: "Go, Hasenheide!") Die Dealer lassen uns allesamt in Ruhe. Sie stehen auf ihren Posten, halten Ausschau nach Kundschaft und Polizeistreifen. Das Treiben um sie herum ignorieren sie genauso, wie die Füchse und die Pfauen ihnen keinerlei Beachtung schenken: ein Musterbeispiel multikultureller Toleranz sozusagen.

Nachmittags und abends sieht es dort völlig anders aus. Wer dann als Frau
alleine unterwegs ist, gilt sowieso als Freiwild und muss sich
verschiedenster Offerten sexueller und kommerzieller Natur erwehren. Neulich ist mein Liebster auf dem Weg zur besten Videothek der
Welt
, wo er als Stammgast praktisch schon zum Inventar gehört, auf meinen Rat hin durch die Hasenheide spaziert, um sich die spektakuläre
Herbstfärbung anzuschauen. Hinterher sagte er, das macht er nie wieder. Er
sei mindestens zwanzig Mal angezischt worden, ob er kein Haschisch kaufen
wolle, und habe sich allerhand misstrauische Blicke von Müttern mit
Kinderwagen sowie von den Polizisten im Streifenwagen eingefangen.

Angesichts des verstärkten Zuzugs Studierender, der damit einhergehenden
Umwidmung abgeranzter Eckkneipen als trendige Treffpunkte, der endlich
erfolgten Tempelhof-Stillegung und der - offenbar fest in arabischen Händen
liegenden - Rundum-Sanierung der Schmuddel- zur Sonnenallee wird Neukölln neuerdings gerne zum Szenekiez von morgen ausgerufen. Sollte es tatsächlich irgendwann so weit kommen, hoffe ich trotz allem, dass die Gentrifizierung der Sozialstrukturen gemäßigter vonstatten geht als in Prenzlberg und Friedrichshain, den Szenekiezen von gestern und heute - und dass die Hasenheide nicht irgendwann nur noch für Anwohner mit goldenem Schlüssel zugänglich sein wird.

Abschied
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