Biotop

Bei uns in der Nähe gibt es einen Park, der auf Initiative Turnvater Jahns vom einstigen kurfürstlichen Jagdgelände zur Leibesertüchtigung der Unterschichten umfunktioniert wurde und inzwischen regelmäßig in den Brennpunkt gerät, wenn die Medien sich wieder mal für Berliner Problembezirke interessieren: Bandenkriege zwischen rivalisierenden schwarzafrikanischen und arabischen Drogenhändlern, Kripo-Einsätze, im Februar 2006 wurde hier auch mal ein Polizist erschossen und das Gelände war tagelang zwecks Tatortsicherung abgesperrt. Ab und zu hört man von Nachbarschaftsaktionen besorgter Eltern, die den Störenfrieden ohne viel Erfolg ins Gewissen reden. Und am Rande des Volksparks wird derzeit ein Hindu-Tempel gebaut.

Wer die Hasenheide heute zum Freizeitsport nutzen will, muss früh aufstehen: Im Morgengrauen tummeln sich hier Jogger wie ambitionierte Läufer. Türkische Frauen, in Begleitung von Ehegatten oder Freundinnen und auch an brütend heißen Tagen von Kopf bis Fuß verhüllt, nur die Arme dürfen frei schwingen, legen ein munteres Tempo vor. Auf den Grünflächen spielen ein paar Männer Golf, oben auf der Rixdorfer Höhe, einem Trümmerberg mit Panoramablick - Minarett, Fernseh- und allerlei Kirchtürme - übt jemand Tai-chi-Sequenzen. Die Herzlichkeit einer Spaziergängerin, die bei Wind und Wetter fünf oder sechs Hunde ausführt, entschädigt mich jeden Morgen aufs Neue für die schadenfrohen Sprüche anderer Herrchen und Frauchen: "Die tut nichts, die will nur spielen!" - "Komisch, das hat Strolchi ja noch nie gemacht!" Oder mein absoluter Favorit: "Sie dürfen ihm nicht zeigen, dass Sie Angst haben!" (Kaum zu glauben, aber wahr: In England entschuldigen sich die Besitzer, wenn ihr Wauwau einen anfällt - manchmal jedenfalls. Freilich bin ich auch dort schon gebissen worden. Dass Hunde die "grüneren" Haustiere sein sollen, weil Katzenstreu als Sondermüll entsorgt werde muss, stimmt mich nicht wirklich versöhnlicher.)

Hartz-IV-Brigaden rücken mit Schubkarren an und schleppen für einen Euro pro Stunde Schaufeln und Eimer durch den Park. Früher stolzierten zwischendrin manchmal Pfauen, aber neuerdings sind die Tore des kleinen Tierparks über Nacht abgeschlossen. Dafür wurden in diesem Sommer australische Trauerschwäne auf dem Tümpel ausgesetzt. Eichhörnchen turnen durch die Bäume, und auch den einen oder anderen Fuchs habe ich schon gesehen.

Hier habe ich schon manche nette Laufbekanntschaft geschlossen: mit einem ehemaligen Triathleten, der inzwischen Mitte Siebzig ist und immer noch jedes Jahr einen Marathon läuft; mit einem Ur-Kreuzberger aus "Herr Lehmann"-Zeiten, der irgendwann beschlossen hat, die durchzechten Nächte mit intensivem Training abzurunden. (Beim Berlin-Marathon ist es mir sogar schon passiert, dass mich ein Zuschauer anfeuerte: "Go, Hasenheide!") Die Dealer lassen uns allesamt in Ruhe. Sie stehen auf ihren Posten, halten Ausschau nach Kundschaft und Polizeistreifen. Das Treiben um sie herum ignorieren sie genauso, wie die Füchse und die Pfauen ihnen keinerlei Beachtung schenken: ein Musterbeispiel multikultureller Toleranz sozusagen.

Nachmittags und abends sieht es dort völlig anders aus. Wer dann als Frau
alleine unterwegs ist, gilt sowieso als Freiwild und muss sich
verschiedenster Offerten sexueller und kommerzieller Natur erwehren. Neulich ist mein Liebster auf dem Weg zur besten Videothek der
Welt
, wo er als Stammgast praktisch schon zum Inventar gehört, auf meinen Rat hin durch die Hasenheide spaziert, um sich die spektakuläre
Herbstfärbung anzuschauen. Hinterher sagte er, das macht er nie wieder. Er
sei mindestens zwanzig Mal angezischt worden, ob er kein Haschisch kaufen
wolle, und habe sich allerhand misstrauische Blicke von Müttern mit
Kinderwagen sowie von den Polizisten im Streifenwagen eingefangen.

Angesichts des verstärkten Zuzugs Studierender, der damit einhergehenden
Umwidmung abgeranzter Eckkneipen als trendige Treffpunkte, der endlich
erfolgten Tempelhof-Stillegung und der - offenbar fest in arabischen Händen
liegenden - Rundum-Sanierung der Schmuddel- zur Sonnenallee wird Neukölln neuerdings gerne zum Szenekiez von morgen ausgerufen. Sollte es tatsächlich irgendwann so weit kommen, hoffe ich trotz allem, dass die Gentrifizierung der Sozialstrukturen gemäßigter vonstatten geht als in Prenzlberg und Friedrichshain, den Szenekiezen von gestern und heute - und dass die Hasenheide nicht irgendwann nur noch für Anwohner mit goldenem Schlüssel zugänglich sein wird.

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