Leben

Freitag, 25. Juni 2010

Neuanfang

Kennen Sie das? Sie haben eine Entscheidung getroffen, die Ihr Leben von Grund auf verändern wird: einen Wechsel des Wohnorts, des Arbeitsplatzes, des Lebensabschnittsgefährten – oder gleich alles auf einmal.

Vorfreude und Verzagen halten sich nun die Waage. Mit Zwanzig lässt man sich auf ein derartiges Wagnis ein, ohne mit der Wimper zu zucken, mit Vierzig kostet es Überwindung. Mal können Sie es kaum erwarten, dann wieder werden Sie von Zweifeln geplagt: Kommt das nicht alles viel zu plötzlich? Haben Sie es sich auch reiflich überlegt? Was, wenn alles schief geht?

Hier einige im Selbstversuch getestete Alltagswahrheiten und Binsenweisheiten zur besseren Bewältigung solcher Situationen:

• Jeder Neuanfang ist eine Chance, genau dies zu tun: noch einmal von vorne anzufangen; Dinge besser zu machen, die Sie bisher an Ihrem Leben gestört haben. Aber: Aus Ihrer Haut kommen Sie nicht heraus. Sie sind so, wie Sie sind – mit allen Stärken und Schwächen, die Sie auch weitehin auf Ihrem Lebensweg begleiten und Ihnen Vor- und Nachteile verschaffen werden.
• Auch wenn Sie sonst ohne Einkaufszettel zu Aldi gehen und Telefonnummern in Ihrem Kopf statt Ihrem Handy speichern: Tragen Sie alle wichtigen Termine, Kündigungsfristen usw. in Ihren Kalender ein und führen Sie „To do“-Listen. Das hilft Ihnen nicht nur bei der Planung, sondern macht eine gewaltige Veränderung überschaubar: Sie haben alles unter Kontrolle!
• Wenn Sie zu nächtlichen Panikattacken neigen: Das ist lästig, aber ganz normal, offenbar sogar evolutionär bedingt – ein Überlebensinstinkt, der unsere Vorfahren vor Überfällen im Schutze der Dunkelheit warnte. – Legen Sie sich irgendetwas neben Ihr Bett, das Sie daran erinnert, dass Sie die richtige Entscheidung getroffen haben: einen Zettel mit fünf Dingen, auf die Sie sich ganz besonders freuen; die Zusage von Ihrem neuen Arbeitgeber; ein Foto von dem Strand, an dem Sie in naher Zukunft Ihr Trainingspensum absolvieren werden ...
• Sollte Ihre Entscheidung nicht freiwillig erfolgt, sondern Ihnen durch äußere Umstände aufgezwungen worden sein: Glauben Sie mir, es ist – jedenfalls auf Dauer – viel gesünder, die Herausforderung anzunehmen, statt ewig mit dem Schicksal zu hadern.
• Machen Sie sich keine Illusionen. Jede Entscheidung ist ein Scheideweg; jeder Neuanfang bedeutet, dass etwas Altes unwiederbringlich vorbei ist. Natürlich werden Sie manches vermissen, mal mehr, mal weniger – nicht zuletzt, weil Sie einen Teil von sich selbst für immer hinter sich lassen; natürlich wartet am anderen Ende nicht der Siebte Himmel, sondern nur ein anderes Leben mit Problemen, die Sie im Moment noch gar nicht absehen können. – Versuchen Sie, in Ihrem Gedächtnis einen Moment zu fixieren, in dem Sie felsenfest davon überzeugt waren, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Sie werden sich wundern, wie viel Kraft Sie aus dieser Erinnerung schöpfen können, wenn Sie von Zweifeln und Reuegefühlen heimgesucht werden.
• Alte Freunde lassen sich nicht einfach durch neue ersetzen. Schon gar nicht dürfen Sie Freundschaften mit beruflichen Kontakten verwechseln. Um Letztere müssen Sie sich aktiv bemühen, Erstere können Sie nicht erzwingen. Freundschaften brauchen Zeit, um heranzureifen. – Schauen Sie sich vor einem Umzug im Internet um: Welche Möglichkeiten gibt es am neuen Ort, Gleichgesinnte kennen zu lernen, etwa im Sportverein, im Tanzstudio, an der Volkshochschule oder beim Kochkurs? Lässt sich vielleicht per E-Mail schon etwas anbahnen, ein erster Kontakt zu einem Lauftreff, einem Lesezirkel oder einem Stammtisch für Freiberufler knüpfen?
• Planen Sie lieber großzügig. Selbst wenn Sie nicht gerade mit Kind und Kegel umziehen: Mehr als die sprichwörtlichen Siebensachen haben Sie garantiert angehäuft. Außerdem weiß man nie, was noch alles dazwischenkommt. Eine Krankheit oder ein unvorhergesehener Großauftrag kann Sie völlig aus der Bahn werfen, wenn Sie die Zeit allzu knapp bemessen haben.
• Reißen Sie nicht alle Brücken hinter sich ein. So groß die Versuchung sein mag, ernst zu machen mit dem Neuanfang, alles auf Null zurückzustellen: Wenn sich eine Entscheidung wider Erwarten doch als falsch erweist, kann es das Klügste sein, sie rückgängig zu machen. Das hat nichts mit Scheitern oder Versagen zu tun, sondern damit, Erfahrungen zu machen und aus ihnen zu lernen.
• Unterschätzen Sie nicht die psychische Belastung, die Sie sich zumuten. Eine Entscheidung zum Neuanfang kann zunächst ungeheuer belebend, ja erlösend wirken – endlich haben Sie ein Ziel vor Augen; eine Gewissheit, dass Ihr Leben nicht die nächsten zehn, zwanzig Jahre im selben Trott so weitergeht! Aber es gibt Studien, denen zufolge ein derartiger Einschnitt kaum weniger Stresspotenzial birgt als der Tod eines geliebten Menschen.

• Verlieren Sie niemals nicht den Mut!

Donnerstag, 1. April 2010

Erste Liebe

Die erste große Liebe meines Lebens ging in die Brüche, als wir beide zehn Jahre alt waren und aufs Gymnasium kamen. In der Grundschule waren wir ein Traumpaar: ich die brave Klassenbeste, er der Beste auf dem Sportplatz, Klassensprecher und mit seinen goldenen Engelslocken Liebling sämtlicher Lehrerinnen. Dann wurde alles anders: Plötzlich reichten eine Eins in Mathe und ein paar todesmutige Sprünge vom Fünfmeterbrett nicht mehr aus, um bei den Jungs gut anzukommen. Andere Mädchen waren hübscher als ich, schlanker, blonder, bald auch fraulicher.

Er dagegen war beliebter als je zuvor: Torschützenkönig der Schulmannschaft, Oscar-verdächtiger Hauptdarsteller in den Träumen und den Tagebüchern meiner neuen Mitschülerinnen, gern gesehener Gast auf jeder Party – Fete, sagten wir damals –, ob mit oder ohne seine Band. Meine Mutter, der ich auf langen Spaziergängen meinen Liebeskummer in epischer Breite schilderte, meinte mit ganz ungewohnter Boshaftigkeit, sie habe sich schon immer gefragt, wie zwei so unscheinbare Eltern einen solch brillanten Sohn zeugen konnten.

Heute – das weiß ich dank Google – übt er in unserer Heimatstadt in der westdeutschen Provinz einen grundsoliden bürgerlichen Beruf aus, in dem er recht erfolgreich ist, hält Vorträge beim Mittelstandsverband der CDU, ist mit seiner Freundin aus der Oberstufe verheiratet und im Sportverein aktiv, auch dies recht erfolgreich. Auf Bildern sieht er verbissen und verhärmt aus, dieser Junge, aus dem alles hätte werden können.

Als ich die ganze Tragik dieser Geschichte neulich im Berliner Kollegenkreis zum Besten gab, fielen die Reaktionen recht unterschiedlich aus – von spöttisch („Ich war immerhin mal Kassierer im Penny-Markt!“) bis nostalgisch. Ein besonders pragmatischer Zeitgenosse meinte: „Wärst du doch bloß mit dem zusammen geblieben – dann könntest du heute drei warme Mahlzeiten am Tag essen und zweimal im Jahr nach Neuseeland jetten!“

Ein anderer Bekannter vertraute mir später an, er habe im Anschluss an unser Gespräch ganze Stunden mit dem letztlich vergeblichen Versuch verbracht, seine eigene Jugendliebe in den Weiten des Internet aufzuspüren. Ob wir ihnen ihre Erfolge gönnen oder mit Schadenfreude zur Kenntnis nehmen, dass auch ihre Träume sich nicht erfüllt haben – die eine oder andere Träne weint wohl jede(r) von uns den Weißt-du-nochs, den Was-wäre-wenns und Hätte-so-schön-sein-könnens nach!

Dienstag, 9. Februar 2010

Schuhwerk

In gut zehn Wochen ist es soweit: Der Praktikant und ich treten beim Hamburg-Marathon an. Nachdem unsere Chefin im vergangenen Jahr so bravourös ihren Krimi-Marathon absolviert hat – mitsamt negativen Splits und einer fulminanten Endbeschleunigung –, wird sie sich diesmal am Straßenrand die Kehle heiser schreien und die Hände wund klatschen.

Falls Sie sich wundern, wie wir es schaffen, vernünftig dafür zu trainieren, wenn Sie schon auf dem Weg zur U-Bahn fünfmal ausrutschen – gestatten Sie mir, Ihnen ein Zauberwort ins Ohr zu flüstern: Yaktrax, eine Art Schneeketten, die sich unter jeden flachen Schuh schnallen lassen. Damit kann man auf allem laufen, sogar auf blankem Eis – nur geräumt darf’s nicht sein.

Was mich allerdings selber wundert, ist, wie andere Frauen bei diesem Wetter Pfennigabsätze tragen können, ohne sich beide Beine zu brechen. Meine eigenen hochhackigen Stiefel stehen seit Weihnachten im Schrank und warten genauso sehnsüchtig auf den Frühling wie ihr Frauchen.

Freitag, 22. Januar 2010

Plusgrade für alle!

Nach gefühlten drei Wochen ohne einen einzigen Sonnenstrahl (in Wirklichkeit sind es erst 19 Tage) kommen mir allmählich Zweifel, ob die Welt je wieder aus ihrer weißen Starre auftauen wird. Höchste Zeit also, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, aus dem Winterschlaf aufzuwachen und etwas dagegen zu tun – wann, wenn nicht jetzt? Damit meine ich nicht den sinnlosen Aktionismus jener Realitätsverweigerer, die bei Tageshöchsttemperaturen von -10°C mit offener Jacke durch die Straßen laufen. Lassen Sie uns eine Partei gründen! Lassen Sie uns das, was die Wählerinnen und Wähler wirklich bewegt, zu einem mehrheitsfähigen Programm aufbereiten! Wir fordern:

• Schluss mit dem Frost!
• Nie wieder Schnee!
• Plusgrade für alle!

Freitag, 20. November 2009

Liebe wird aus Mut gemacht

„Am liebsten würde ich meinen Job hinschmeißen und eine Zeitlang gar nichts machen“, sagt eine Bekannte, und sie sagt es in einem so nachdenklichen Ton, dass ich weiß, es ist nicht nur so im momentanen Frust dahergeredet. „Und zu deinem Freund ziehen?“ frage ich. Er hat eine gut bezahlte Stelle in einem EU-Nachbarstaat, und die beiden sehen sich bestenfalls alle paar Wochen. Meine Bekannte nickt.

Ich möchte ihr allerhand zu bedenken geben: Willst du dich wirklich von einem Mann abhängig machen, mit dem du bisher nur im Urlaub zusammen gelebt hast? In einem Land noch dazu, wo du nicht mal die Sprache beherrscht? Ohne eigene Berufsperspektiven? Warum wartest du nicht ab, ob du ihn in zwei Jahren immer noch liebst? Aber Bedenken hat sie erstens selber genug, und zweitens verfüge ich auf diesem Gebiet weder über Frau Burkhardts professionelle Kompetenz, noch würde ich mich auch nach neunzehn weitgehend geglückten gemeinsamen Jahren jemals als Expertin für Männerhaltung ausgeben wollen.

Statt dessen zitiere ich Nena. „Liebe wird aus Mut gemacht“: aus Übermut, aus Wagemut, aus Wehmut – und manchmal, seien wir doch ehrlich, aus einer gehörigen Portion Wankelmut. Mit Anfang Zwanzig, bis über beide Ohren verliebt und von einer monatelangen Fernbeziehung emotional ausgezehrt, erschien es mir einst kein großes Ding, ihn zu überwinden. Später werden die Hürden immer höher. In unserem Freundeskreis erleben wir gerade, wie ein alter Junggeselle damit hadert, dass seine Freundin, ihrerseits Langzeitstudentin mit ebenso vielen Semestern WG-Erfahrung, eine Wohnung geerbt hat, in die er nun mit ihr einziehen soll. Ein eigenes Arbeitszimmer hat er schon ausgehandelt; nun müssen Designer-Regale für seine CD-Sammlung her, die sich bisher wüst auf dem Boden stapeln durfte. Wer an welchen Wochentagen kochen und putzen muss, ist noch nicht raus.

Ein anderes Pärchen, zwei ehrgeizige Akademiker, die sich absolut nicht vorstellen können, außerhalb der Uni zu arbeiten, hangelt sich von einem Kompromiss zum nächsten: er in Bulgarien, sie in Detroit; beide in Kanada, er auf einer Professur, während sie sich mit mageren Lehraufträgen begnügt. Und eine Freundin aus Übersee, die eine Aufenthaltsgenehmigung, aber keine Arbeitserlaubnis hat, erzählt mir immer wieder, wie schwer es ihr fällt, nichts zur Haushaltskasse beitragen zu können. Mit der behördlich auferlegten Heirat wird sich wenigstens das ändern. Selbst Michelle Obama, deren Ehe in den Medien mal als glamouröse Traumromanze, mal als postfeministisches Ideal gefeiert wird, bekannte jüngst in einem sehr offenherzigen Interview, wie schwierig es sein kann, ihr Leben mit dem mächtigsten Mann der Welt zu teilen.

Manchmal ertappe ich mich bei dem ketzerischen Gedanken, ob nicht früher doch alles einfacher war: als man von seinem Gehalt eine ganze Familie ernähren konnte und frau sich mit der Hochzeit oder spätestens mit der Geburt des ersten Kindes ganz selbstverständlich in finanzielle, ja in existenzielle Abhängigkeit von ihm begab. Diese Zeiten sind vorbei – zum Glück: Dass noch heute Frauen – oft, aber längst nicht immer – die größeren Opfer bringen, von der First Lady bis zu meiner unschlüssigen Bekannten, steht auf einem anderen Blatt. Trotzdem kann ich sie nur ermuntern, sich auf das Wagnis einzulassen, ihrem Herzen einen Ruck und ihrer Beziehung eine Chance zu geben. Vielleicht wird daraus etwas Dauerhaftes, bis dass der Tod sie scheidet, vielleicht auch nur ein kurzes Abenteuer in der Fremde; vielleicht lernt sie, ihren Gefühlen nie wieder zu trauen, oder vielleicht wird sie beim nächsten Mal von Anfang an klarer wissen, was sie will und was nicht – alles besser als das Bedauern über eine ausgeschlagene Gelegenheit, eine nie gelebte Erfahrung!

Mittwoch, 21. Oktober 2009

Alle Jahre wieder

Irritiert es Sie auch jedes Jahr, wenn Sie bereits im September in den Geschäften die ersten Hinweise auf Weihnachten entdecken? Oder haben Sie sich an den Anblick gewöhnt und nehmen schulterzuckend zur Kenntnis, dass spätestens Mitte Oktober niemand mehr übersehen kann, dass es nun nur noch schlappe zwei Monate bis zum Fest der Feste sind? Gehören Sie vielleicht sogar zu all jenen Kunden, die dankbar sind, dass sie in aller Ruhe auswählen und vergleichen können, statt erst in letzter Sekunde loszuhetzen, um noch einen Restposten Adventskerzen zu ergattern?

Ich bin in der Hinsicht sehr altmodisch. Im Oktober ist Herbst, und sonst nichts (ich kann auch dem Halloween-Tralala nichts abgewinnen). Im November kommt die Zeit der stillen Tage, der Ruhe und Besinnung. Und erst nach dem Totensonntag richte ich den Blick nach vorne auf Weihnachten. Erst dann bin ich bereit, Lebkuchen und Lichterketten zu kaufen und mir über Geschenke für all meine Lieben Gedanken zu machen. Die Zeit reicht immer, egal wie voll mein Terminkalender ist. Ich bin noch nie in echte Hektik geraten. Das liegt sicher daran, dass ich mir bewusst Zeit nehme für das Schmücken meiner Wohnung und das Kaufen der Geschenke. Und es hat auch damit zu tun, dass meine Familie schon lange davon Abschied genommen hat, an Weihnachten das perfekteste Fest aller Zeiten zu feiern. Viel wichtiger ist, dass wir uns gemeinsam nach einem anstrengenden Jahr entspannen können und Zeit füreinander haben. Alles andere ist egal. Darum gehen wir tatsächlich sehr gelassen in die Feiertage.

Und darum muss ich mir auch jetzt noch keine Gedanken über Weihnachten machen. Ich genieße lieber weiter den Herbst, statt diese Jahreszeit einfach zu überspringen. Weihnachten kommt doch sowieso. Im Dezember. Und dann habe auch ich garantiert Lust auf Strohsterne, Engel und selbstgebackene Plätzchen.

Edit:
Ohne Werbung für die Kirchen machen zu wollen, aber gestern fiel mir zufällig diese Postkarte in die Hände. Sie passt sehr schön zu der kleinen Diskussion, die dieser Blogtext ausgelöst hat:

apfelbaum_advent_ist_im_dezember1

Dienstag, 13. Oktober 2009

Jahreszeiten

„Ganz schön düster heute, was?“ sagte kürzlich ein Freund zu mir, als es besonders grau und verregnet war. Ich nickte seufzend. Von „goldenem“ Oktober konnte in diesem Jahr wirklich keine Rede sein. Während der September sehr heiß und trocken war, wurde es in Norddeutschland mit dem Umblättern des Kalenderblatts schlagartig Herbst. „Und das Schlimme daran“, fuhr mein Freund mit Leidensmiene fort, „ist ja die Tatsache, dass das jetzt ein halbes Jahr lang so bleibt.“ Ich erschrak. Ein halbes Jahr Regen, Kälte und Dunkelheit? Das konnte doch niemand ertragen.
Am nächsten Tag gingen zwei Männer hinter mir die Straße entlang. „Und sonst so?“ fragte der eine. „Gibt nix zu sagen“, entgegnete der andere. „Der Sommer ist vorbei und jetzt ist dieser scheiß Herbst da, und ich kriege Depressionen.“ Er sagte das so, als habe sein letztes Stündlein geschlagen und er innerlich bereits mit dem Leben abgeschlossen.

Es geht aber auch anders. Am vergangenen Wochenende unternahm ich mit meinen Nichten bei Sturm und Regen einen ausgedehnten Spaziergang. Die Laune der Mädchen stieg, je länger wir unterwegs waren. Unermüdlich sammelten sie bunte Blätter, Eicheln, Beeren und Nüsse. „Ich liebe den Herbst!“ rief die Ältere begeistert und hielt ihr Gesicht in den Wind. „Das war ja ein echtes Abenteuer“, fand die Jüngere, als sie nass und durchgefroren, aber mit leuchtenden Augen heimwärts trottete. Zuhause hockten sie dann stundenlang in der Küche, pressten Blätter und bastelten Eichel-Männchen und Laubketten.

Ich liebe den Herbst auch. Zugegeben, der Abschied vom Sommer tut mir jedes Jahr weh, und eine kurze Zeit lang denke auch ich voller Schrecken an Dunkelheit und Kälte. Aber im Sommer ist es oft viel zu heiß, um ausgedehnte Spaziergänge zu unternehmen, die ich sehr liebe. Am besten bei einem kräftigen Westwind, der alle trüben Gedanken fortbläst. Und nichts ist schöner, als sich anschließend mit einem Becher dampfendem Tee und einem spannenden Buch aufs Sofa zu kuscheln. Auch die Herbstfarben faszinieren mich. Die satten Rot-, Gelb- und Brauntöne begeistern mich jedes Jahr aufs Neue und finden sich auch in meiner Kleidung wieder, nicht zuletzt, weil mir diese Farben gut stehen.

Es gefällt mir überhaupt, dass wir verschiedene Jahreszeiten haben. Jede einzelne hat ihren Reiz, jeder Monat bringt Veränderungen in der Natur, die spannend und schön sind. Nur der Winter ist hier im Norden in der Tat oft ziemlich öde, weil es selten Schnee, dafür aber viel Regen und grauen Himmel gibt. So gesehen kann ich die Leute gut verstehen, deren Stimmung mit den Außentemperaturen sinkt. Früher haben mich diese Monate auch gelähmt. Inzwischen akzeptiere ich, dass auch die stillen Zeiten ihre Berechtigung haben, dass der Rückzug in die eigenen vier Wände, langes Schlafen und wenig äußere Ablenkung mir dazu helfen, aufzutanken und kreativ zu werden. Ich merke, dass es mir leichter fällt, mit den Jahreszeiten zu leben, als mich gegen sie zu stemmen. Im Grunde muss ich nur den Signalen meines Körpers folgen, dann bin ich immer genau im passenden Lebensrhythmus.

Dienstag, 4. August 2009

Klimawandel

Seit ein paar Jahren leidet England, insbesondere der Süden, unter einer Monsunsaison, die ausgerechnet auf den Juli fällt, den einzigen Monat, in dem wir beide problemlos länger am Stück Urlaub nehmen können. Immer häufiger vertreiben uns nun platzregenartige Niederschläge vom Strand, und der starke Wind verdirbt die Wellen zum Surfen.

Diesmal sollte alles ganz anders werden. Im April rissen Schlagzeilen von einem zu erwartenden „barbecue summer“ die Briten aus ihrem Stimmungstief. Normalverbraucher, denen eine bösartige Bestie namens „credit crunch“ um die Fersen kläffte, buchten statt des kanarischen Ferienappartements zwei Wochen auf einem Campingplatz in Devon. Für Spot the Dog wurde ein Sonnenzelt angeschafft und Baby Daisy in Ganzkörper-Neopren gezwängt. Sogar Jills arbeitsloser Vater und Jacks allein erziehende Mutter leisteten sich in einem der zahlreichen Räumungsverkäufe eine neue Grillzange und ein Paar Shorts. Die großen Supermarktketten ließen Werbefilme drehen: fröhliche Familien beim Picknick, Ketchupmünder lachen mit der Sonne um die Wette – „alles für unter fünf Pfund!“

Ende Juli dann die Hiobsbotschaft: zwei Tage Land unter, und die Langzeitvorhersage sei wohl ein wenig optimistisch ausgefallen, vermeldete das Wetteramt kleinlaut. Im übrigen habe die Presse die Wendung vom „barbecue summer“ – ähnlich wie seinerzeit den „englischen Monsun“ – allzu begierig aufgesogen. Geprägt habe man sie nämlich, um die 35prozentige Wahrscheinlichkeit festzustellen, dass besagte neue Jahreszeit ins Wasser fallen könne.

Morgenluft wittern momentan nur die Verschwörungstheoretiker unter uns. Tatsächlich drängt sich die Frage auf, ob die Regierung etwa Druck auf ihre Behörde ausgeübt hat, die Prognosen möglichst positiv zu gestalten: um Urlauber im Land zu halten oder sogar anzulocken (als ob der derzeitige Pfundkurs nicht schon Anreiz genug wäre!) und die Wirtschaft anzukurbeln. Immerhin soll schon im Ostblock der Wetterbericht gefälscht worden sein. Damals war das Propaganda – so 20th century, darling –, bei New Labour heißt es eben „spin“.

Dienstag, 14. Juli 2009

Falsche Tomaten

Im Zuge gründlicher Recherchen (einer Google-Suche von genau 0,46 Sekunden) habe ich festgestellt, dass es in Neubrandenburg nicht nur einen, sondern mindestens drei Bioläden gibt (und in der nahen Umgebung noch ein paar mehr) – bei 66.000 Einwohnern. Nanu? Sind die Menschen im Wilden Osten etwa auf einer höheren Entwicklungsstufe angelangt als der durchschnittliche Berliner Kosmoprolet?

Neulich in der Hauptstadt, Tatort Gemüseabteilung (einer bekannten Supermarktkette, die es, aber das wirklich nur nebenbei, für verkaufsfördernd zu erachten scheint, ihr überraschend üppiges Angebot an Tofu- und Weizeneiweiß-Produkten mitten zwischen blutigen Rindersteaks und mausetotem Federvieh auszulegen). Er: „Nee, Helga, das sind doch die Falschen! Kiek mal, da steht überall Bio dran!“ – Helga lässt erschrocken die falschen Tomaten fallen und ergreift mitsamt Einkaufswagen voller eingeschweißter Leichenteile die Flucht, als fürchte sie, sich mit gesundem Menschenverstand anzustecken.

Montag, 22. Juni 2009

Vorurteile

Geschäftlich arbeiten wir seit Jahren wunderbar zusammen, menschlich verstehen wir uns bei allen Reibereien hervorragend – in weltanschaulichen Fragen trennen uns ganze Galaxien. Um so überraschter bin ich, als ausgerechnet dieser Bekannte mich auf die aktuelle Körperwelten-Ausstellung anspricht. Nein, gesehen habe ich sie noch nicht, sage ich und mache mich auf eins unserer gelegentlichen Wortgefechte gefasst, bei denen ich vom Feminismus bis zur Google-Buchsuche sämtliche Errungenschaften der letzten vierzig Jahre verteidigen muss.

Aber nein, er gerät geradezu in Verzückung. Die Menschenwürde, die ihm – im biblischen, nicht im humanistischen Sinn – sehr am Herzen liegt, werde in der Schau nicht nur gewahrt, so sagt er, sondern regelrecht zelebriert. Wenn jemand wie er Worte wie „pietätvolle Präsentation“ in den Mund nimmt, ist das nicht bloß dahergeredet. Nicht etwa der Tod, sondern das Leben werde hier in großartigster Weise gefeiert, und schon gar nicht verstehe er jene Leute in seinem Umfeld, die sich ein Urteil über etwas anmaßten, ohne sich mit eigenen Augen ein Bild davon gemacht zu haben. Ob der Anblick veritabler Mini-Mes in Gestalt von plastinierten Föten sogar mich zur Abtreibungsgegnerin bekehren würde, wie er prophezeit, wage ich zwar zu bezweifeln, aber diese Diskussion erspare ich uns für heute. Noch nie, schwärmt er weiter, habe er in einer Ausstellung soviel gelernt: über den Aufbau des Körpers, über das Zusammenwirken seiner einzelnen Bestandteile, darüber, wie ein Mensch funktioniert. Missfallen hätten ihm einzig die Posen, in denen die Plastinate gezeigt werden – und zwar nicht so sehr der berüchtigte Geschlechtsakt als vielmehr die unangemessene Banalität alltäglicher Zeitvertreibe.

Ohne Einwände grundsätzlicher Art gegen diese Form von Leichenfledderei geltend machen zu können oder zu wollen, die schließlich mit ausdrücklicher Billigung der Körperspender geschieht, fand ich das „Körperwelten“-Spektakel immer leicht widerwärtig – sowohl inhaltlich als auch wegen des Medienrummels, der darum veranstaltet wurde. Nach dem Telefonat fühle ich mich wie beflügelt, möchte am liebsten den Rest des Nachmittags frei nehmen und sofort zum Postbahnhof fahren. Stattdessen muss eine halbe Stunde für diesen Blog-Text reichen. Schön, wenn andere Menschen gegen meine Vorurteile verstoßen! Schön auch, dass ich nicht immer nur mit Menschen zu tun habe, die meine Meinung zu allem und jedem teilen! Den Ausstellungsbesuch werde ich bei nächster Gelegenheit nachholen. Vielleicht treffe ich Sie dort?

Abschied
Aus dem Kiez
Coaching
Das Krimi-Experiment
Dies und Das
Feierabend
Kommunikation
Kreatives Schreiben
Leben
Lost in Translation
Nachgedacht
Schnappschüsse
Singles
Termine
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren