Vorurteile

Geschäftlich arbeiten wir seit Jahren wunderbar zusammen, menschlich verstehen wir uns bei allen Reibereien hervorragend – in weltanschaulichen Fragen trennen uns ganze Galaxien. Um so überraschter bin ich, als ausgerechnet dieser Bekannte mich auf die aktuelle Körperwelten-Ausstellung anspricht. Nein, gesehen habe ich sie noch nicht, sage ich und mache mich auf eins unserer gelegentlichen Wortgefechte gefasst, bei denen ich vom Feminismus bis zur Google-Buchsuche sämtliche Errungenschaften der letzten vierzig Jahre verteidigen muss.

Aber nein, er gerät geradezu in Verzückung. Die Menschenwürde, die ihm – im biblischen, nicht im humanistischen Sinn – sehr am Herzen liegt, werde in der Schau nicht nur gewahrt, so sagt er, sondern regelrecht zelebriert. Wenn jemand wie er Worte wie „pietätvolle Präsentation“ in den Mund nimmt, ist das nicht bloß dahergeredet. Nicht etwa der Tod, sondern das Leben werde hier in großartigster Weise gefeiert, und schon gar nicht verstehe er jene Leute in seinem Umfeld, die sich ein Urteil über etwas anmaßten, ohne sich mit eigenen Augen ein Bild davon gemacht zu haben. Ob der Anblick veritabler Mini-Mes in Gestalt von plastinierten Föten sogar mich zur Abtreibungsgegnerin bekehren würde, wie er prophezeit, wage ich zwar zu bezweifeln, aber diese Diskussion erspare ich uns für heute. Noch nie, schwärmt er weiter, habe er in einer Ausstellung soviel gelernt: über den Aufbau des Körpers, über das Zusammenwirken seiner einzelnen Bestandteile, darüber, wie ein Mensch funktioniert. Missfallen hätten ihm einzig die Posen, in denen die Plastinate gezeigt werden – und zwar nicht so sehr der berüchtigte Geschlechtsakt als vielmehr die unangemessene Banalität alltäglicher Zeitvertreibe.

Ohne Einwände grundsätzlicher Art gegen diese Form von Leichenfledderei geltend machen zu können oder zu wollen, die schließlich mit ausdrücklicher Billigung der Körperspender geschieht, fand ich das „Körperwelten“-Spektakel immer leicht widerwärtig – sowohl inhaltlich als auch wegen des Medienrummels, der darum veranstaltet wurde. Nach dem Telefonat fühle ich mich wie beflügelt, möchte am liebsten den Rest des Nachmittags frei nehmen und sofort zum Postbahnhof fahren. Stattdessen muss eine halbe Stunde für diesen Blog-Text reichen. Schön, wenn andere Menschen gegen meine Vorurteile verstoßen! Schön auch, dass ich nicht immer nur mit Menschen zu tun habe, die meine Meinung zu allem und jedem teilen! Den Ausstellungsbesuch werde ich bei nächster Gelegenheit nachholen. Vielleicht treffe ich Sie dort?

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