Montag, 20. April 2009

Prakti rennt (II)

Sonntagmorgen im Park. Der Praktikant ist zu spät – wie immer. Ich auch – wie immer. Zehn Minuten nach der verabredeten Zeit trudeln wir beide am Treffpunkt ein. Der Praktikant wirkt nervös, fummelt ewig lange an seiner Wunderuhr rum.
„Aber laufen musst du schon noch selber“, ziehe ich ihn auf. „Das weißt du, oder?“
„Du bist ja nur neidisch“, entgegnet er und hält mir das gute Stück zur Begutachtung vor die Nase. Da hat sich Papa seine Investition in Sohnemanns Sportlerkarriere ordentlich was kosten lassen, wenn‘s schon mit der väterlichen Fürsorge eher suboptimal geklappt hat! Ob er das Gerücht kennt, dem zufolge marktführende Unternehmen in anderen Ländern bei Bewerbungsgesprächen routinemäßig die Marathon-Bestzeit abfragen?

Während wir unter Bäumen, die vergnügt im Sonnenschein vor sich hin grünen, am Kanal entlang laufen, während es überall um uns herum so munter zwitschert wie sonst nur auf Twitter, erinnere ich mich all der Tage im Dezember und Januar, an denen der Morgen noch nicht einmal graute, sondern sich pechschwarz und zappenduster als ein solcher ausgab; der tückisch vereisten Bürgersteige; der tauben Finger, die kaum noch den Wohnungsschlüssel im Schloss umzudrehen vermochten; und jenes unvergesslichen dreistündigen Trainingslaufs im Schneematsch und einsetzenden Dauerregen, bei dem ich mit einer aufgeschürften Handfläche und einer „unbrauchbar gemachten“ S-Bahn-Monatskarte noch glimpflich davonkam – aber eben auch der verzauberten Schneelandschaften, in denen ich als allererste meine Fußabdrücke hinterließ. Warum tut man sich das immer wieder an? Diese Frage scheint uns Läufer freilich weit weniger zu beschäftigen als die Menschen um uns herum. Denn wir wissen, warum, oder ahnen es zumindest

Ich unterhalte den Praktikanten mit Laufstories, die ich selber nur vom Hörensagen kenne: vom Bangkok-Marathon, wo der Startschuss mitten in der Nacht fällt, weil tagsüber die Luft zu schlecht wäre; von Wettkämpfen, bei denen die 42 Kilometer in stillgelegten Bergwerken, in Straßentunneln oder Gefängnishöfen abgespult werden. Ich erzähle von der Zuschauerin, die ihrem Liebsten bei Kilometer 1 zurief: „Geht schon noch!“; von den Witzbolden neulich in Rom, die in jeder Unterführung „Seven Nation Army“ anstimmten; von den tanzenden Luftballons der Pacemaker und der guten Stimmung, als befänden wir uns alle zusammen auf einem Karnevalsumzug – ganz schön aufgekratzt, aber super gelaunt –; und ich beichte ihm, wie ich beim Zieleinlauf am Kolosseum mit Tränen kämpfte, die mir in die Augen schießen wollten. Er lacht mit mir über die Läufer, die sich am Marathontag anrufen lassen, nur damit sie ihr schweißnasses Handy aus der Tasche fummeln und japsen können: „Ja hallo, ich bin hier gerade bei Kilometer 27. Und was machst Du heute so?“ Von denen, die sich vor dem Start zwischen Gepäckabgabe und Dixieklo noch schnell eine Kippe anzünden, erzähle ich besser nichts – das würde ihn nur auf dumme Gedanken bringen.

Stattdessen versuche ich ihm zu erklären, warum ich persönlich am liebsten ganz ohne technischen Schnickschnack, sogar ohne MP3-Player auf die Strecke gehe. Das Laufen erledigen die Beine, Herz und Lunge die Sauerstoffversorgung, für alles andere ist mein Kopf zuständig.
„Bei meinem allerersten Halbmarathon musste ich aus dem hintersten Block starten“, sage ich. „Um mich herum waren alle furchtbar aufgeregt damit beschäftigt, sich gegenseitig ihre Herzfrequenzen vorzulesen. Ein Jahr später stand ich in Startblock B, gleich hinter der Elite“ – ein bisschen Stolz darf sein, oder? – „und die alten Hasen haben sich über tausend Dinge, nur nicht über ihre Pulsuhren.“

Meine Nase juckt ein wenig vom Heuschnupfen, aber sonst geht’s mir gut. Der Praktikant dagegen sagt immer weniger. Ich beschließe, die letzte Schleife etwas abzukürzen, und bald sind wir wieder an unserem Ausgangspunkt angekommen.
„Und? Wie fühlst du dich?“ frage ich, während ich dem Praktikanten ein paar sanfte Dehnübungen vormache.
„Mein Puls ist bei 186.“
„Das war nicht meine Frage. Wie fühlst du dich?“
Der Praktikant zuckt die Schultern. „Geht gleich wieder.“
„Sag mal, magst du zum Frühstücken mit zu uns kommen?“ Eine ganz spontane Idee – ehrlich.
„Ich hab nichts zum Umziehen dabei.“
„Macht nichts“, sage ich. „Mein Mann hat gefühlte 32 Paar Jeans, der leiht dir bestimmt gerne eins. Und wenn du statt deinem Piraten-Sweatshirt mit einem Tour-T-Shirt von einer Punkband deiner Wahl vorlieb nimmst, geht auch das klar.“
„Aber keine Moralpredigten über vegetarische Ernährung oder Ökostrom, okay? Es ist Wochenende, ich will einfach nur chillen.“
Wofür hält er mich? „Versprochen“, schwöre ich. „Komm, wir holen erst noch Brötchen.“
„Ihr habt doch Nutella da?“ fragt der Praktikant argwöhnisch.
(Nein, bloß Samba, aber das verrate ich ihm lieber nicht.)

Donnerstag, 9. April 2009

Frohe Ostern

Primel1

Montag, 6. April 2009

Das Krimi-Experiment Teil 5

Wie schafft man es, innerhalb von zwei Monaten einen ganzen Roman zu schreiben? Erstens braucht man Zeit. Zweitens Disziplin. Drittens eine gute Idee. Eigentlich hatte ich auf den ersten Blick nichts von alledem. Und dann hat es doch geklappt.

Im Dezember las ich eine Wettbewerbsausschreibung, die spannend klang. Eine Freundin lieferte mir auch prompt erste Ideen für eine Hauptfigur. Aber ich verwarf den Gedanken an das Projekt rasch wieder. Der Einsendeschluss war Ende März, und es erschien mir vollkommen unmöglich, in so kurzer Zeit einen ganzen Roman zu schreiben – zumal die Idee für eine Figur noch lange keinen guten Plot ausmacht. Da fehlte ja noch viel, genau genommen die ganze Geschichte.

Aber in mir drin brodelte und gärte es. Zu meiner Heldin gesellten sich weitere Figuren, sehr blass und verschwommen zwar, doch irgendwie geriet da etwas in Bewegung. Unmerklich reifte in meinem Unterbewussten eine Geschichte heran, die zunächst kaum mehr als eine noch sehr vage Idee war. Irgendwann im Januar schrieb ich sie auf. Im Zusammenhang gelesen klang diese Idee sehr konkret und gar nicht schlecht. Als das auch Frau Brown fand, beschloss ich, das Projekt in Angriff zu nehmen. Ich markierte im Kalender den für mich spätesten Absendetermin und stellte fest, dass ich genau acht Wochen Zeit haben würde, diesen Roman zu schreiben. Entschlossen teilte ich von diesen acht Wochen zwei ab, die ich für die Überarbeitung reservierte. Blieben also noch sechs Wochen. Sechs Wochen oder 42 Tage, in denen ich insgesamt mindestens 200 Normseiten schreiben musste. Das sind pro Woche mindestens 33, pro Tag 4-5 Seiten.

Statt meiner Kreativität freien Lauf zu lassen, übertrug ich diese äußeren Strukturen auf meine Geschichte. Ich beschloss, sie in 12 Kapitel einzuteilen, was bedeutete, dass ich pro Woche zwei Kapitel schreiben musste. In den Kapiteln hangelte ich mich an den Jahreszeiten entlang, damit schuf ich einen äußeren Rahmen, der mir später half, schnell für jedes Kapitel eine passende Stimmung zu finden. Nun verteilte ich ganz grob die Handlung auf diese 12 Kapitel. Sie war übersichtlich und würde sich in kurzer Zeit bewältigen lassen, das war mir ganz wichtig. Ich hatte keine Zeit für sehr aufwändige Recherchen und auch nicht für komplizierte Orts- und Zeitwechsel. Mein Krimi erhielt so stellenweise fast etwas Kammerspielartiges.

Ich arbeitete mich ganz chronologisch von der ersten bis zur letzten Seite vor. Die Story entwickelte sich dabei von Satz zu Satz weiter. Ich hatte nur eine grobe Richtung vorgegeben, wusste natürlich, wer der Mörder war und wie seine Opfer hießen, hatte auch kurze Biographien für die anderen Figuren geschrieben, aber die Details entstanden erst beim Schreiben. Die Figuren erhielten ihre Gesichter mit der Taufe. Ich verbrachte allein mehrere Tage mit der Namensfindung, das war ein ganz wichtiger Prozess für mich. Vor allem die Hauptfigur nannte ich mehrmals um, bis sich ihr Name richtig anhörte und las. Von dem Moment an begann diese Figur zu leben, nahmen auch die anderen Figuren äußere Gestalt an. Und damit begann auch schon das Elend. Diese Figuren waren allesamt sehr stark und eigenwillig. Sie übernahmen schnell die Regie, bereits nach dem dritten Kapitel hatten sie meine Storyline über Bord geworfen und erzählten die Geschichte auf ihre Weise. Das irritierte und verwirrte mich, denn so etwas hatte ich noch nie erlebt.

Ich hatte ursprünglich vor, kontinuierlich jeden Tag ein bisschen zu schreiben, aber das funktionierte nicht. Ich brauchte den Kopf ganz frei für meinen Krimi. Alles um mich herum musste stimmen und passen, um arbeiten zu können. So stellte ich zum Beispiel schnell fest, dass ich besser im Wohnzimmer als an meinem eigentlichen Arbeitsplatz schreiben konnte. Und ich merkte, dass ich Zeit brauchte. Zeit, um immer wieder neu in die Geschichte eintauchen zu können und in mir drin diese Art von meditativer Stimmung zu erzeugen, aus der heraus dann Gedanken und Fantasie zu Text werden. Manchmal saß ich ein, zwei Stunden am Rechner, bevor es richtig losging. Ich surfte durchs Internet, betrieb ein wenig Recherche, ließ mir unbewusst meine Geschichte durch den Kopf gehen, schrieb probehalber zwei, drei Sätze, bis es dann irgendwann lief. Dann schrieb ich allerdings auch durchaus mal ein ganzes Kapitel in einem Rutsch durch, wie im Rausch, manchmal bis spät in den Abend hinein. An anderen Tagen lief gar nichts, ich behalf mich damit, Szenen für andere Kapitel zu entwerfen oder ließ es ganz bleiben. Im Laufe der Wochen entwickelte sich ein Rhythmus, in dem ich am Stück zwei, drei Tage pro Woche (vorzugsweise am Wochenende, weil ich da die meiste Ruhe hatte) nichts anderes machte, als am Krimi zu arbeiten. Die fertigen Kapitel mailte ich an Beate Brown. So kam ich gar nicht erst in Versuchung, sie ewig zu überarbeiten. Was raus war, konnte auch erst mal aus meinem Kopf verschwinden, um Platz für das nächste Kapitel zu schaffen.

Die Überarbeitung war der schwierigste Teil. Ich war inzwischen ziemlich erschöpft, und nachdem ich das Manuskript einigen Testlesern gegeben hatte, merkte ich, wie ich zusammensackte und sich eine große innere Leere breit machte. In dieser Stimmung noch einmal ganz grundlegende Änderungen vorzunehmen, war fast nicht möglich. Dennoch überarbeitete ich jedes Kapitel noch einmal gründlich und veränderte vor allem in den Schlusskapiteln einiges deutlich. Ich bin übrigens in den ganzen acht Wochen immer im Zeitplan geblieben – und das, obwohl ich normalerweise nicht unbedingt sonderlich diszipliniert bin. Aber das Schreiben machte mir so viel Spaß, dass jedes fertige Kapitel für mich eine große Motivation war, den nächsten Teil der Geschichte in Angriff zu nehmen. Ab einem gewissen Punkt war Aufgeben kein Thema mehr. Dafür sorgten schon meine Figuren, die so lebendig waren, dass sie mich einfach nicht mehr losließen und bis in meine nächtlichen Träume hinein verfolgten. Irgendwie war ich es ihnen schuldig, ihre Geschichte fertig zu erzählen. Und das habe ich dann auch getan.

Prakti rennt (I)

Hut ab vor unserem Praktikanten! (Aber Sie wissen ja, das Tragen von Kopfbedeckungen ist in unseren Büroräumen sowieso nur bei schlechtem Wetter gestattet.) Er hat sich nicht nur das Rauchen abgewöhnt, sondern auch an einem kleinen, feinen Volkslauf über zehn Kilometer teilgenommen, ohne uns vorher was zu sagen. Behauptet er jedenfalls. In den Ergebnislisten im Internet kann ich ihn nicht finden. „Nicht unter M“, sagt er ungeduldig. „Meine Mutter hat nach der Scheidung wieder ihren Mädchennamen angenommen. Da, schau, eins höher musst du gucken.“ Tatsächlich, da ist er: „Kant, Prakti MHK 51:43“. Gar nicht schlecht fürs erste Mal!
„Hinterher war ich auch total geschafft“, erzählt er. „Ich bin viel zu schnell losgerannt, das passiert mir garantiert nicht noch mal.“
Ich grinse vor mich hin und verrate ihm lieber nicht, wie schwer es mir heute noch fällt, gerade bei kürzeren Strecken meine Tagesform richtig einzuschätzen und mir den Lauf entsprechend einzuteilen.
„Nächstes Jahr machen wir dich fit für den Hamburg-Marathon“, verspreche ich ihm statt dessen.
Der Praktikant guckt verstört. „Nächstes Jahr? Meinst du, dann bin ich noch hier? Ich will doch nicht mein Leben lang Praktikant bleiben!“
Dabei haben wir uns gerade so schön aneinander gewöhnt! „Kommt Zeit, kommt Rat“, vertröste ich ihn. „Aber falls du doch noch hier sein solltest, kriegst du von uns auf jeden Fall das Startgeld und ein Knotenpunkte-Shirt gesponsert.“ Nicht wahr, Chefin?

Freitag, 3. April 2009

Überfordert

Neben den üblichen Kreditangeboten und GEZ-Mahnungen lag neulich ein sehr amtlich aussehender Umschlag in unserem Briefkasten. Nach dem ersten Schrecken sah ich, dass es doch bloß eine harmlose Wahlbenachrichtigung war. Am 26. April wird in Berlin über das Begehren der Initiative „Pro Reli“ abgestimmt, den Religionsunterricht, der seit 2006 den Status einer freiwilligen Arbeitsgemeinschaft hat, künftig wieder zum ordentlichen Schulfach an den weiterführenden Schulen zu machen. Nach der derzeitigen Regelung ist Ethik ab der siebenten Klasse Pflichtfach und kann nicht zugunsten des konfessionellen Religionsunterrichts abgewählt werden.

Ehrlich gesagt weiß ich weder, was ich davon halten, noch wie ich mich dazu verhalten soll. Und enthalte ich mich ganz – aus welchen Gründen auch immer –, zählt die Statistik mich nur zu den vielen Apathischen, Politikverdrossenen. Bin ich als überzeugte Atheistin selbstverständlich gegen Religion an staatlichen Schulen? Oder bin ich als überzeugte (Links-)Liberale dafür, dass die Schulkinder – nun, jedenfalls ihre Eltern – selber zwischen verschiedenen Formen der Wertevermittlung entscheiden dürfen? Habe ich als (freiwillig und absichtlich) kinderloser Mensch überhaupt das Recht oder die Pflicht, mich in diese Frage einzumischen? Und wenn ja, geht es mir um das Seelenheil der Sprösslinge meiner eigenen Bekannten und Verwandten oder um die Gestaltung unserer gesellschaftlichen Zukunft? Droht Deutschland der Zufall in Parallelgesellschaften oder gar, Gott bewahre, die Islamisierung? Und wenn ja, ist der obligatorische Ethikunterricht für alle ein wirksames Integrationsmittel dagegen?

Will ich unseren „Regierenden“ Klaus Wowereit für seinen arroganten Umgang mit Volksentscheiden abstrafen, die für den Senat keinerlei Verbindlichkeit haben, nach dem Motto: Lasst das Volk ruhig abstimmen, da kann gar nichts passieren, denn entscheiden tun am Ende wir. (Wohl bemerkt: Wie Sie unschwer erraten haben dürften, wenn Sie frühere Texte von mir gelesen haben, war ich für die Schließung von Tempelhof und gegen die Spreeufer-Verbauung. Aber ich bin auch für demokratische Mitsprache und gegen despotische Bevormundung.) So durfte der Volksentscheid über den Religionsunterricht nicht wie von der Bürgerinitiative gefordert zeitgleich mit den Europawahlen im Juni stattfinden, weil sich dann womöglich zu viele Leute daran beteiligt und das erforderliche Quorum etwa doch erfüllt hätten.

Oder, wo wir schon beim Abstrafen sind: für die von den Gegnern des „Pro Reli“-Begehrens verwendete Formulierung vom „Wahlzwang“, ein früher Favorit für das Unwort des Jahres? Gewiss, der Volksmund spricht von der Qual der Wahl – und Jürgen Habermas vom „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“, nun gut –, aber der Volksmund redet viel, wenn der Tag lang ist, und Jürgen Habermas noch mehr. Solange es eine Wahl (zwischen echten Alternativen) gibt, kann der Zwang doch gar nicht so groß sein. Gerade die Mitglieder der Berliner Regierungskoalition mit DDR-Vergangenheit sollten das wissen und mit derartigen Kampfbegriffen vorsichtig umgehen.

Nur, mit den echten Alternativen ist das auch wieder so eine Sache. In meinem eigenen Religionsunterricht in der westdeutschen Provinz nahmen wir damals die Gefahren von Sex, Drogen und Rock‘n‘Roll, das Elend in der Dritten Welt und die Gräuel im Dritten Reich durch. Nur Gott kam eigentlich nie vor. Für Gott waren der Pfarrer und das Elternhaus zuständig. Bei der Handvoll katholischer Mitschüler war es ein wenig anders, ihnen machte ein leibhaftiger Pater die Hölle heiß und das Leben schwer: Sie mussten lange Texte auswendig lernen, während wir Filme über schwangere Schulmädchen und afrikanische Waisen mit geschwollenen Bäuchen anschauten. Aber die weitere Handvoll „konfessionsloser“ Kinder, deren Eltern aus Gewissensgründen auf einen eigenen Ethikunterricht bestanden, hätten getrost bei uns mitmachen können, ohne auch nur in Gefahr zu geraten, christlich oder gar evangelisch indoktriniert zu werden.

Wie Sie sehen, sind die Normalbürger und Normalbürgerinnen mit solch komplexen Fragen hoffnungslos überfordert. Ein Glück also, dass sie sowieso nichts zu sagen haben – ein Glück, dass es kluge Politiker gibt, die wissen, was gut und richtig für uns ist!

Dienstag, 31. März 2009

Das Krimi-Experiment Teil 4

Oder: Wie ich einen Marathon lief, ohne das Haus zu verlassen

Am Start. Ich komme mir total fehl am Platz vor. Um mich herum stehen nur muskelbepackte, durchtrainierte Leute, die so aussehen, als könnten sie diesen Lauf zweimal hintereinander absolvieren. Und dazwischen bin also ich, klein, unscheinbar, völlig untrainiert. Ich schätze, ich komme über die ersten drei Kilometer nicht hinaus, das ist die Strecke, die ich normalerweise so zurücklege. Drei Kilometer, oder einen Blogtext, eine Kurzgeschichte, einen langen Brief. Mein Ziel lautet jedoch, einen ganzen Roman zu schreiben. Innerhalb von zwei Monaten. Das kommt der Anstrengung eines Marathons von 42 Kilometern Länge sehr nahe.

Es geht los. Och, denke ich, so wild ist das ja gar nicht. Das Wetter ist ganz schön, ich habe mich beim Aufwärmen sehr energiegeladen gefühlt und die ersten Kilometer, äh Kapitel meistere ich mit links. Am Straßenrand erspähe ich Frau Brown, die fröhlich ein Fähnchen schwenkt. „Super!“ brüllt sie. „Weiter so!“ Ich strahle und nehme die nächsten Kilometer ins Visier.

Bei Kilometer 8 kriege ich die erste Krise. Ich habe in der jubelnden Menge meine Verwandtschaft entdeckt. Ein Teil von ihnen (ich nenne jetzt keine Namen) zieht ein missmutiges Gesicht. „Mach mal ein bisschen Tempo!“ höre ich. „Du bist ganz schön lahm.“ Ich schaue zurück auf die ersten Kapitel, die ich geschrieben habe. Stimmt das? Ist das wirklich alles Mist? Etwas Schlimmeres als einen langweiligen Krimi gibt es nicht. Große Selbstzweifel bringen mich dazu, das ganze Projekt in Frage zu stellen. Aber dann merke ich, dass all die anderen Leute am Straßenrand mich freundlich anfeuern und ihre Rufe mich weiter tragen. Ich beschließe, meine Verwandtschaft ab sofort zu ignorieren und nur noch auf die Stimmen der anderen Passanten zu lauschen.

Dennoch bin ich aus dem Takt gekommen. Es läuft nicht so rund wie auf den ersten Kilometern. Mein Rücken tut mir weh. Ich lege eine Essenspause ein, um nachzudenken, wie nun alles weiter gehen soll. Am Verpflegungsstand steht Frau Brown und gibt mir als erfahrene Marathonläuferin rasch ein paar Tipps. Danach geht einiges tatsächlich leichter. „Und denk immer dran, ab Kilometer 22 läufst du nur noch nach Hause!“ ruft sie mir noch hinterher, dann bin ich auch schon wieder mitten im Getümmel. Kilometer 22? Also Kapitel 6. Mein Problem ist nicht das Tempo, merke ich jetzt, sondern die Spannung. Wie schaffe ich es, die Leute zu fesseln?

Ich passiere Kilometer 22 in erstaunlich guter Verfassung. Um mich herum lichtet sich das Feld. Da sind ja gar nicht so viele durchtrainierte Sportler unterwegs, wie ich anfangs dachte, sondern ganz viele Hobbyläufer, mit denen ich locker mithalten kann. Auf einmal läuft alles rund. Meine Beine tragen mich Kilometer um Kilometer vorwärts, Kapitel 7 und 8 entstehen wie von selbst. Ich kriege dieses rauschhafte Gefühl, das sich bei intensivem Laufen einstellt, schaue kaum noch nach links und rechts und haue mechanisch Finger um Finger auf die Tastatur. Es wird! Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass ich es schaffen kann.

Bei Kilometer 30 klemmt es. Kapitel 9 hat mich viel Kraft gekostet, ich bin unsicher, ob da wirklich alles Hand und Fuß hat. Jetzt könnte ich gut ein bisschen Unterstützung gebrauchen. Aber von Frau Brown ist weit und breit nix zu sehen. Wo steckt die bloß? Ich kämpfe und ringe weiter mit mir selbst. Mein Lauf ist eine sehr einsame Angelegenheit geworden, auf einmal gibt es nur noch mich und die Straße, mich und die letzten drei Kapitel. Da taucht endlich auch Frau Brown wieder auf. „Es gibt Leute, die behaupten, dass dein Lauf erst ab Kilometer 30 richtig anfängt“, ruft sie fröhlich. „Die letzten 12 Kilometer sind angeblich die härtesten deines Lebens.“ Soll das ein Scherz sein? Und was war mit der Behauptung, dass ab Kilometer 22 alles von selbst geht? Ich bin fertig, mit dem Lauf, mit dem Krimischreiben. Nichts geht mehr. Frau Brown schüttelt missmutig den Kopf und tippt auf ihre Uhr. Tempo, Mädel, will sie wohl sagen. Jetzt überholen mich sogar schon die dicken, schlaffen Hobbyläufer. Aber ich weiß einfach nicht mehr weiter. Habe ich mich etwa verlaufen? Hier sieht alles so merkwürdig aus, fühlt sich vieles nicht mehr richtig an. Seufzend wälze ich meine Geschichte im Kopf von A nach B und wieder zurück. Ich hätte so gerne ein wirklich gutes Finale, aber dafür bin ich wohl doch zu untrainiert.

Die letzten drei Kilometer. Ich sehe unseren Praktikanten am Ziel stehen. Und neben ihm schwenkt seine Mutter ein riesiges Transparent hin und her. „Du bist die Größte!“ steht darauf, aber ich bin nicht sicher, ob sie überhaupt mich damit meint und nicht doch eher die schicke, junge Frau neben mir, die gerade noch mal einen richtigen Spurt einlegt. Meine Verwandtschaft ist auch wieder da und blickt jetzt total begeistert drein. „Super!“ brüllen auch jene, die noch vor gar nicht langer Zeit sehr skeptisch waren. Ich strahle. Und spüre, dass meine Beine jeden Moment nachgeben. Ich kann nicht mehr.

Totale Hirnleere. Ich glaube, ich breche gleich zusammen. So kurz vorm Ziel. Jemand blafft mich von der Seite an, und mir schießen Tränen in die Augen. Geht mir doch alle weg mit diesem blöden Krimi. Verbrennen möchte ich ihn am liebsten. Ist doch eh alles ganz großer Mist. „Du hast es gleich geschafft“, höre ich da eine aufmunternde Stimme neben mir. Frau Brown hat sich mit auf die Rennstrecke begeben und zieht mich die letzten Meter ins Ziel. „Guck mal, da vorne ist schon das Brandenburger Tor.“ Sie lächelt mich ermutigenden an. Brandenburger Tor? Ich dachte, ich laufe durch Hamburg. Irritiert schaue ich mich um. Kein Wunder, dass sich unterwegs einiges so falsch angefühlt hat. Ich bin offenbar sehr vom Kurs abgekommen. Aber das macht gar nichts. Auch hier stehen die Menschen, die mir wichtig sind, ermutigen mich, jubeln mir zu und bestärken mich darin, dass ich alles richtig gemacht habe. Auch hier gibt es ein Ziel, das ich tatsächlich erreiche. Ob dieses Ziel in Hamburg oder Berlin liegt, was spielt das schon für eine Rolle? Ich bin da! Ich hab’s geschafft!

Rund 200 Normseiten umfasst das fertige Manuskript. Als ich es in den Händen halte, bin ich selig. Ich glaube, ich habe in den letzten zwei Monaten den Lauf meines Lebens hingelegt. Jedenfalls fühlt es sich so an. Wie gut ich dabei war, müssen nun andere entscheiden, ich selbst vermag das nicht zu sagen. Dafür war ich viel zu sehr drin, in diesem Krimi, der mich vorwärts getrieben hat, Tag für Tag ein Stückchen mehr. Am Ende bin ich unendlich erschöpft, aber auch sehr erfüllt. Fast wie ein echter Marathonläufer.

Abschied
Aus dem Kiez
Coaching
Das Krimi-Experiment
Dies und Das
Feierabend
Kommunikation
Kreatives Schreiben
Leben
Lost in Translation
Nachgedacht
Schnappschüsse
Singles
Termine
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren