Donnerstag, 20. Mai 2010

Alltagsbeobachtungen

Für kreatives Schreiben ist eine gute Beobachtungsgabe unabdingbar. Ich bin oft in Gedanken versunken und eher nach innen gewandt, weil mit tausend Dinge durch den Kopf gehen. Dabei entgeht mir dann so manches in meiner Umwelt. Aber genauso oft schaue ich auch sehr bewusst hin. Ich beobachte Menschen auf der Straße, in der S-Bahn oder im Supermarkt, wie sie sich bewegen, wie sie angezogen sind, wie sie sich mit anderen Menschen unterhalten. Daraus ziehe ich dann meine Schlüsse – die meistens sicher nicht stimmen. Aber manchmal laufen richtige Filme in meinem Kopf ab und ich dichte Menschen ein ganzes Leben an. Das ist dann wiederum ein wunderbarer Stoff für eine Kurzgeschichte oder eine Szene in einem Roman.

Da ist zum Beispiel das alte Paar, dem ich immer wieder beim Spazierengehen begegne. Hand in Hand kommen sie mir in flottem Schritt entgegen. Dabei sind die Beiden sicher fast Achtzig, haben graue, kurze Haare und faltige Gesichter. Sie tragen das ganze Jahr über Birkenstocksandalen, im Sommer barfuß, im Winter mit dicken, selbstgestrickten Wollsocken, dazu die passenden bunten Mützen und Schals. Sie wirken ernst und in sich gekehrt, manchmal kommt es mir fast so vor, als würden sie mich richtig böse anschauen. Wer weiß, vielleicht tun sie das auch und hegen voller Grimm Vorurteile über die Jugend von heute – zu der ich mich weiß Gott nicht mehr zähle, aber aus der Perspektive einer Achtzigjährigen bin ich natürlich noch sehr jung. Vielleicht sind sie aber auch einfach nur – ähnlich wie ich – so sehr in ihre eigene Gedankenwelt versunken, dass sie mich gar nicht richtig wahrnehmen.

Ich stelle mir vor, dass er Wissenschaftler war, vielleicht Mathematik oder Germanistik, und sie Lehrerin für Kunst und Handarbeiten. Vielleicht aber waren auch beide Musiker, oder er war Pastor und sie hat die Kinder aufgezogen. In jedem Fall liegt hinter ihnen ein buntes, bewegtes Leben. Sie haben nicht jahrelang in Großraumbüros zugebracht und sind dem schnellen Geld nachgejagt. Vielmehr sind sie bei den großen Friedensdemonstrationen in den 80ern mit marschiert und haben sich in Brokdorf einer Sitzblockade angeschlossen, bis sie von Wasserwerfern fortgespült wurden. Sie haben sich für die Gleichberechtigung der Frauen eingesetzt, bei der Eröffnung des ersten Hamburger Bioladens mitgewirkt und sie gehörten zu den Gründungsmitgliedern der Grünen. Vielleicht sind sie zu den Kirchentagen gefahren, damals, als dort noch Politik gemacht wurde und die Leute nicht nur fröhliche Liedchen trällerten. Vielleicht sind sie auch Anthroposophen und haben ihre Kinder in eine Waldorfschule geschickt. Früher mal lebten sie in einer Wohngemeinschaft auf dem Land. Heute bewohnen sie ein Gründerzeithaus, das sie eigenhändig restauriert und vor dem Abriss bewahrt haben. Die Hausgemeinschaft war früher mal sehr eng, jeder war für jeden da, die Türen mussten nicht abgeschlossen werden, die Kinder waren nie allein.

Heute ist das anders. Heute wollen die jungen Nachbarn mit den spinnerten Alten nicht mehr viel zu tun haben. Sie wissen nicht mehr, dass Leute wie diese Wollsockenträger dafür gesorgt haben, dass unsere Regierung über Alternativen zum Atomstrom nachdenkt, dass es Bio-Möhren bei Aldi gibt und unverheiratete Paare zusammenleben können, ohne dass es irgendwen interessiert. Dafür sind ihnen die Bio-Produkte selbst im Discounter zu teuer, weil sie ihr Geld lieber für das neuste Macbook, Designerklamotten und Pauschalreisen nach Gran Canaria ausgeben, statt sich gesund zu ernähren.

Es ist verständlich, dass das alte Wollsockenpaar darüber erbittert ist und grimmig in die Gegend schaut. „Wozu haben wir denn gekämpft, wenn nicht für euch, die nächsten Generationen?“ fragen sie sich beim Anblick all dieser gelangweilten, unengagierten Jugendlichen. So könnte es doch sein, oder?

Es kann aber auch sein, dass alles ganz anders ist. Doch das ist egal. Denn ich habe zwei schöne Charaktere für einen neuen Text gefunden.

Abschied
Aus dem Kiez
Coaching
Das Krimi-Experiment
Dies und Das
Feierabend
Kommunikation
Kreatives Schreiben
Leben
Lost in Translation
Nachgedacht
Schnappschüsse
Singles
Termine
Profil
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