Feierabend

Sonntag, 26. Juli 2009

Kochkunst

„Was, Sie kochen?“ fragt mich entgeistert ein Kunde, mit dem ich seit Jahren zusammenarbeite. „Aber doch nicht jeden Tag? Dabei dachte ich immer, Sie sind so‘ne feministisch Beschleunigte!“ Er hat mich angerufen, als meine Hände gerade tief im Pizzateig stecken und ich das Telefon zwischen Kinn und Schulter balancieren muss. Seine Frage kommt mir so dumm vor, dass mir erstmal die Spucke wegbleibt. Ja, ich koche – leidenschaftlich gern und fast jeden Tag. Manchmal sind wir abends bei Freunden, dann kochen die, oder im Restaurant, dann kochen Profis, und selten schmeckt es uns so lecker wie zu Hause. – Na und? Schließlich esse ich auch leidenschaftlich gern – jeden Tag.

Eigentlich ganz einfach. Aber natürlich weiß ich, was hinter der Frage steckt. Meine Generation von Frauen – und Männern – ist in einer Kultur aufgewachsen, die uns eintrichtern wollte, dass Selbstverwirklichung, Erfolg, Lebensglück gar, nur durch Lohnarbeit zu haben sei. Am Gymnasium, wo wir Leistungsträger der Zukunft ausgebildet wurden, ist so etwas wie Hauswirtschaftslehre gar nicht erst unterrichtet worden – warum auch? Wäre ja Ressourcenverschwendung gewesen. Mit unseren anstrengenden Powerjobs, mit all den Überstunden im Namen von Emanzipation und Gleichberechtigung würden wir doch später überhaupt keine Zeit haben, aus frischen Zutaten eine Mahlzeit zuzubereiten. Wozu gibt es schließlich Mikrowellen und Tiefkühltruhen?

Denn während wir uns in geschäftigen Großraumbüros verwirklichten, sollten unsere weniger begabten Mitmenschen am Fließband stehen und aus Konservierungsstoffen, naturidentischen Aromen, Geschmacksverstärkern und anderen Errungenschaften der Lebensmittelchemie etwas massenproduzieren, was sich dann von unseren Kollegen aus der Werbebranche als Gourmetkost für Gehetzte vermarkten ließ. Die perfekte Arbeitsteilung: Alle profitieren. Und zur Entspannung werden Kochshows im Fernsehen geguckt. – Nein, das ist keine Verschwörungstheorie. Schauen Sie doch mal in die Einkaufskörbe Ihrer Nachbarn, wenn Sie das nächste Mal an der Schnellkasse in der Schlange stehen.

Apropos Schnellkasse: Die Beschäftigung bei den großen Supermärkten, dem nächsten Glied in unserer Nahrungskette, bietet zugegebenermaßen wenig Raum zur persönlichen Entfaltung und kreativen Verwirklichung – aber immer noch besser, als zu Hause am Herd zu stehen! Mal ganz abgesehen davon, dass es in immer mehr Haushalten zwei Brotverdiener braucht, damit alle satt werden. Ob ich meinen Kunden zurückrufen und ihn über all diese vertrackten Zusammenhänge aufklären soll? Lieber empfehle ich ihm Frau Burkhardts Text zu einem verwandten Thema.

Und beglücke ihn mit diesem Zitat aus Barbara Kingsolvers wunderbarem Buch „Animal, Vegetable, Miracle“: „Als wir den Haushalt gegen die Karriere eintauschten, ging damit das unausgesprochene Versprechen wirtschaftlicher Unabhängigkeit und öffentlichen Einflusses einher. Aber in Bezug auf den Alltag hat sich das als ein Teufelspakt herausgestellt“, so die amerikanische Schriftstellerin, beileibe keine Eva Heimchen, sondern eine studierte Ökologin mit nachahmenswertem Lebensstil. „Als die Frauen meiner Generation der Küche den Rücken kehrten, wies uns eine profitgierige Lebensmittelindustrie den Weg, die uns rasch als übermüdete, empfängliche Zielgruppe ausgemacht hatte. ‚Hey, Ladies‘, ermunterte sie uns, ‚weiter so, emanzipiert euch ruhig. Wir sorgen dafür, dass das Essen auf den Tisch kommt.‘ Sie rissen uns die Tür weit auf, und wir marschierten auf eine Ernährungskrise und eine wahrhaft giftstoffhaltige Lebensmittelversorgung zu. Wenn Sie glauben, giftstoffhaltig sei übertrieben, dann lesen Sie mal, was auf der Packung zum Umgang mit ungekochtem Hähnchenfleisch aus der Massentierhaltung steht.“

Als meine Eltern Anfang der Achtziger ihr Einfamilienhaus kauften, war meine Mutter – deren vorsintflutliche Entscheidung, Hausfrau statt Wissenschaftlerin zu werden, mir damals, aber das nur nebenbei, als eine der ganz großen Tragödien des 20. Jahrhunderts erschien – entsetzt über die winzige, schlecht zu lüftende Küche: kaum größer als das Gästeklo; kaum Flächen, um etwa einen Strudelteig hauchdünn auszurollen, die Brotschneidemaschine aufzustellen oder mehrere Gänge gleichzeitig vorzubereiten; erst recht kein Platz für uns Kinder, um ihr beim Kartoffelschälen zu helfen, rohes Gemüse zu naschen, Töpfe und Schüsseln auszulecken, Spaghettisoße umzurühren, Zimtsterne auszustechen, eine selbst ausgedachte Geschichte vorzulesen oder zu erzählen, was der verhasste Mathelehrer wieder Unerhörtes von sich gegeben hatte. „Wieso, mehr brauchen Sie doch heutzutage nicht mehr“, sagte der Architekt verständnislos. Seine Frau sei vollauf glücklich damit.

Die Küche in unserer Berliner Altbauwohnung hat doppelt so viele Quadratmeter. Eigentlich ist sie mir immer noch zu klein. Am liebsten hätte ich eine Vorratskammer und eine sonnige Fensterbank voller Kräutertöpfe. Wenn ich nach stundenlanger Kopfarbeit den Computer ausschalte und das Radio aufdrehe; wenn ich die Ärmel hochkremple, warmen Pizzateig knete, bis er aufhört zu kleben, sondern Blasen wirft und geschmeidig wird, Knoblauch presse, Peperoni, Zwiebeln, Tomaten und Pilze schnippele, Käse reibe; wenn sich dann die ganze Wohnung mit dem Aroma frisch gebackener Pizza füllt – dann habe ich endlich das Gefühl, heute etwas geschafft zu haben. Den Abwasch übernimmt zum Glück mein feministisch beschleunigter Mann.

Freitag, 26. Juni 2009

Regenbogen

Kürzlich war ich in Neubrandenburg. Was mich in die tiefste ostdeutsche Provinz verschlagen hat? Natürlich war es ein Lauf, angeblich „der härteste im Norden“ – nun ja, der Blankeneneser Heldenlauf mit seinen vielen Treppenstufen ist auch nicht ganz ohne, und der Syltlauf soll es vor allem wegen des Windes in sich haben, aber sei‘s drum. Die Gegend ist allemal eine Reise wert, auch wenn ich an dem Samstag verdammt früh aufstehen musste.

Dass es dort landschaftlich wunderschön ist, damit hatte ich gerechnet. Was ich nicht erwartet hätte, war, direkt an der Stargarder Straße, die vom Bahnhof zum Kulturpark führt, einen bestens sortierten, freundlichen Bioladen der alten Schule mit dem netten Namen „Regenbogen“ zu entdecken. In Berlin, wo mittlerweile jede Woche an irgendeiner Ecke ein neuer Bio-Supermarkt aufmacht, sind solche Geschäfte – betrieben von Leuten, die genau wissen, was sie verkaufen und warum, und auch weitermachen würden, wenn Bio plötzlich wieder uncool und unprofitabel wäre – längst im Aussterben begriffen.

Montag, 20. April 2009

Prakti rennt (II)

Sonntagmorgen im Park. Der Praktikant ist zu spät – wie immer. Ich auch – wie immer. Zehn Minuten nach der verabredeten Zeit trudeln wir beide am Treffpunkt ein. Der Praktikant wirkt nervös, fummelt ewig lange an seiner Wunderuhr rum.
„Aber laufen musst du schon noch selber“, ziehe ich ihn auf. „Das weißt du, oder?“
„Du bist ja nur neidisch“, entgegnet er und hält mir das gute Stück zur Begutachtung vor die Nase. Da hat sich Papa seine Investition in Sohnemanns Sportlerkarriere ordentlich was kosten lassen, wenn‘s schon mit der väterlichen Fürsorge eher suboptimal geklappt hat! Ob er das Gerücht kennt, dem zufolge marktführende Unternehmen in anderen Ländern bei Bewerbungsgesprächen routinemäßig die Marathon-Bestzeit abfragen?

Während wir unter Bäumen, die vergnügt im Sonnenschein vor sich hin grünen, am Kanal entlang laufen, während es überall um uns herum so munter zwitschert wie sonst nur auf Twitter, erinnere ich mich all der Tage im Dezember und Januar, an denen der Morgen noch nicht einmal graute, sondern sich pechschwarz und zappenduster als ein solcher ausgab; der tückisch vereisten Bürgersteige; der tauben Finger, die kaum noch den Wohnungsschlüssel im Schloss umzudrehen vermochten; und jenes unvergesslichen dreistündigen Trainingslaufs im Schneematsch und einsetzenden Dauerregen, bei dem ich mit einer aufgeschürften Handfläche und einer „unbrauchbar gemachten“ S-Bahn-Monatskarte noch glimpflich davonkam – aber eben auch der verzauberten Schneelandschaften, in denen ich als allererste meine Fußabdrücke hinterließ. Warum tut man sich das immer wieder an? Diese Frage scheint uns Läufer freilich weit weniger zu beschäftigen als die Menschen um uns herum. Denn wir wissen, warum, oder ahnen es zumindest

Ich unterhalte den Praktikanten mit Laufstories, die ich selber nur vom Hörensagen kenne: vom Bangkok-Marathon, wo der Startschuss mitten in der Nacht fällt, weil tagsüber die Luft zu schlecht wäre; von Wettkämpfen, bei denen die 42 Kilometer in stillgelegten Bergwerken, in Straßentunneln oder Gefängnishöfen abgespult werden. Ich erzähle von der Zuschauerin, die ihrem Liebsten bei Kilometer 1 zurief: „Geht schon noch!“; von den Witzbolden neulich in Rom, die in jeder Unterführung „Seven Nation Army“ anstimmten; von den tanzenden Luftballons der Pacemaker und der guten Stimmung, als befänden wir uns alle zusammen auf einem Karnevalsumzug – ganz schön aufgekratzt, aber super gelaunt –; und ich beichte ihm, wie ich beim Zieleinlauf am Kolosseum mit Tränen kämpfte, die mir in die Augen schießen wollten. Er lacht mit mir über die Läufer, die sich am Marathontag anrufen lassen, nur damit sie ihr schweißnasses Handy aus der Tasche fummeln und japsen können: „Ja hallo, ich bin hier gerade bei Kilometer 27. Und was machst Du heute so?“ Von denen, die sich vor dem Start zwischen Gepäckabgabe und Dixieklo noch schnell eine Kippe anzünden, erzähle ich besser nichts – das würde ihn nur auf dumme Gedanken bringen.

Stattdessen versuche ich ihm zu erklären, warum ich persönlich am liebsten ganz ohne technischen Schnickschnack, sogar ohne MP3-Player auf die Strecke gehe. Das Laufen erledigen die Beine, Herz und Lunge die Sauerstoffversorgung, für alles andere ist mein Kopf zuständig.
„Bei meinem allerersten Halbmarathon musste ich aus dem hintersten Block starten“, sage ich. „Um mich herum waren alle furchtbar aufgeregt damit beschäftigt, sich gegenseitig ihre Herzfrequenzen vorzulesen. Ein Jahr später stand ich in Startblock B, gleich hinter der Elite“ – ein bisschen Stolz darf sein, oder? – „und die alten Hasen haben sich über tausend Dinge, nur nicht über ihre Pulsuhren.“

Meine Nase juckt ein wenig vom Heuschnupfen, aber sonst geht’s mir gut. Der Praktikant dagegen sagt immer weniger. Ich beschließe, die letzte Schleife etwas abzukürzen, und bald sind wir wieder an unserem Ausgangspunkt angekommen.
„Und? Wie fühlst du dich?“ frage ich, während ich dem Praktikanten ein paar sanfte Dehnübungen vormache.
„Mein Puls ist bei 186.“
„Das war nicht meine Frage. Wie fühlst du dich?“
Der Praktikant zuckt die Schultern. „Geht gleich wieder.“
„Sag mal, magst du zum Frühstücken mit zu uns kommen?“ Eine ganz spontane Idee – ehrlich.
„Ich hab nichts zum Umziehen dabei.“
„Macht nichts“, sage ich. „Mein Mann hat gefühlte 32 Paar Jeans, der leiht dir bestimmt gerne eins. Und wenn du statt deinem Piraten-Sweatshirt mit einem Tour-T-Shirt von einer Punkband deiner Wahl vorlieb nimmst, geht auch das klar.“
„Aber keine Moralpredigten über vegetarische Ernährung oder Ökostrom, okay? Es ist Wochenende, ich will einfach nur chillen.“
Wofür hält er mich? „Versprochen“, schwöre ich. „Komm, wir holen erst noch Brötchen.“
„Ihr habt doch Nutella da?“ fragt der Praktikant argwöhnisch.
(Nein, bloß Samba, aber das verrate ich ihm lieber nicht.)

Montag, 6. April 2009

Prakti rennt (I)

Hut ab vor unserem Praktikanten! (Aber Sie wissen ja, das Tragen von Kopfbedeckungen ist in unseren Büroräumen sowieso nur bei schlechtem Wetter gestattet.) Er hat sich nicht nur das Rauchen abgewöhnt, sondern auch an einem kleinen, feinen Volkslauf über zehn Kilometer teilgenommen, ohne uns vorher was zu sagen. Behauptet er jedenfalls. In den Ergebnislisten im Internet kann ich ihn nicht finden. „Nicht unter M“, sagt er ungeduldig. „Meine Mutter hat nach der Scheidung wieder ihren Mädchennamen angenommen. Da, schau, eins höher musst du gucken.“ Tatsächlich, da ist er: „Kant, Prakti MHK 51:43“. Gar nicht schlecht fürs erste Mal!
„Hinterher war ich auch total geschafft“, erzählt er. „Ich bin viel zu schnell losgerannt, das passiert mir garantiert nicht noch mal.“
Ich grinse vor mich hin und verrate ihm lieber nicht, wie schwer es mir heute noch fällt, gerade bei kürzeren Strecken meine Tagesform richtig einzuschätzen und mir den Lauf entsprechend einzuteilen.
„Nächstes Jahr machen wir dich fit für den Hamburg-Marathon“, verspreche ich ihm statt dessen.
Der Praktikant guckt verstört. „Nächstes Jahr? Meinst du, dann bin ich noch hier? Ich will doch nicht mein Leben lang Praktikant bleiben!“
Dabei haben wir uns gerade so schön aneinander gewöhnt! „Kommt Zeit, kommt Rat“, vertröste ich ihn. „Aber falls du doch noch hier sein solltest, kriegst du von uns auf jeden Fall das Startgeld und ein Knotenpunkte-Shirt gesponsert.“ Nicht wahr, Chefin?

Samstag, 21. März 2009

Pasta-Party

Wieso diese Nudeln, die da aus Kübeln in Plastikbehälter geschaufelt, mit einer Kelle roter Soße übergossen und stilgerecht mit einer Picknickgabel ausgehändigt werden, so beflügelnd sein sollen, dass man am nächsten Tag einen ganzen Marathon laufen kann, erschließt sich auf den ersten Blick nicht. Das liegt nämlich an den geheimen Zutaten, die jeder Einzelne, der hier in der Schlange steht, selber mitgebracht hat: eine kräftige Prise Aberglauben, einen großzügigen Schlag Anspannung. Dem einen liegt die klumpige Masse so schwer im Magen, als hätte er jeden einzelnen Pflasterstein heruntergewürgt, den seine Schuhsohlen morgen streifen werden. Der andere hat einen solch beneidenswerten Stoffwechsel, dass jeder Bissen, den er isst, umgehend in pure Nervennahrung umgewandelt wird.

Wir jedenfalls werden uns nachher in der Pizzeria noch mehr Kohlenhydrate reinstopfen, um uns für die bevorstehende Kraftprobe zu stärken. Dazu gibt es tatsächlich mal nur Alkoholfreies – und vor allem jede Menge Wasser. Denn schlafen kann ich heute sowieso nicht – was macht es da schon, wenn ich zehnmal auf Toilette muss?

Sonntag, 8. März 2009

Konzertkritik

Als bessere Hälfte eines Musikjournalisten und bekennenden Vinyl-Freaks macht frau einiges mit. Und damit meine ich nicht nur die regelmäßigen Ausflüge zum schwedischen Einrichtungshaus unser aller Vertrauens, um mehr Regalmeter für die Plattensammlung anzukaufen. Wir gehen auf Punkkonzerte, auf Rockkonzerte, Popkonzerte, Soul-All-Nighters, zu Open-Air-Veranstaltungen und in schummrige Kneipen. Wir sehen die Legenden von vorgestern und die Wunderkinder von übermorgen. Wir treiben uns auf der Popkomm und der British Music Week herum und natürlich auf dem wunderbarsten Festival der Welt. Meistens ist der Großteil des Publikums halb so alt wie wir, manchmal sind die Herrschaften auf der Bühne doppelt so alt wie wir, und manche von den Indie-Kids mit ihren knallengen Röhrenjeans und waidwunden Herzen – soviel zarter besaitet als ihre windschnittigen Gitarren –, die gestern noch im Stimmbruch waren und heute schon von Weltschmerz und Liebeskummer singen, würde ich am liebsten mit nach Hause nehmen und mal so richtig bemuttern.

Ich halte zweieinhalb Stunden lang den Atem an, damit Bob Dylan ja nicht aufhört zu singen ... nur noch ein Lied ... und danach noch eins ... ein allerletztes ... bitte, bitte, nur ein einziges, klitzekleines, winziges ... wie wär‘s mit „Lily, Rosemary and the Jack of Hearts“? ... „Tangled Up in Blue“? na klar, auch nicht schlecht!* ... und bete, dass die Black Lips endlich ihre Instrumente einpacken, damit ich ins Bett kann. Lustlose Live-Auftritte von Wilco, den Vines oder den Kings of Leon beweisen, dass viel Testosteron noch lange keinen geilen Abend garantiert. Den Pretty Things dagegen, immerhin rüstige Herren um die Sechzig, verübeln wir nicht einmal die anschließende anderthalbstündige Nachtbusfahrt quer durch den Berliner Winter. Holly Golightly, die mal ungefähr fünf Minuten lang supercool war, nachdem sie mit den White Stripes am Mikro stand, verpassen wir niemals, ob sie in Szeneschuppen in Mitte oder Kultclubs im Prenzlauer Berg auftritt.

* Wenn mir irgendwann gar nichts anderes einfällt, erzähle ich vielleicht mal von dem Straßenmusiker, mit dem ich vor vielen, vielen Jahren in Istanbul unterwegs war, auch so ein Möchtegern-Dylan mit ein bisschen Talent und großen Träumen. Was aus dem wohl geworden ist? Leider hört mein Liebster nicht gerne solche Geschichten aus meiner wildbewegten Jugend, dabei war seine eigene viel wilder und bewegter. Der Praktikant dafür um so lieber – allemal besser als Arbeiten, stimmt‘s? Aber weiter im Text.

Jackson Browne beglückt uns mit einem Wunschkonzert, wechselt auf Zuruf die Gitarre und stimmt das nächste Lied an. Wir lassen uns von Joan as Police Woman bezaubern, von den BellRays ordentlich einheizen, von Mercury Rev ins Feenreich entführen. Wir rocken in ausverkauften Hallen zu Arcade Fire und den Raconteurs, wundern uns, warum Vic Chesnutt oder die Fiery Furnaces immer noch Geheimtips sind. Dem Café Zapata im Tacheles werden wir manche Träne nachweinen, auch weil hier Joanna Newsom ihre Harfe aufgestellt hat, lange bevor Schicki und Micki sie in gepflegtem Theaterambiente sehen wollten.

Weil mein Liebster so ein guter Mensch ist, begleitet er mich zum Heimspiel von Element of Crime in der Arena und Wir sind Helden in der Wuhlheide. Dafür lasse ich mich breitschlagen, Oasis noch einmal eine Chance zu geben, auch wenn es Januar ist und in Strömen auf vereiste Bürgersteige regnet, und lausche in der schwülsten Nacht des Jahres schweißgebadet und hundemüde dem Sirenengeheul der Yeah Yeah Yeahs. Bei Eric & Amy stehen wir Hand in Hand ganz vorne und freuen uns, dass nicht nur wir, sondern auch sie einander gefunden haben.

Im Zuge solcherlei Milieubeobachtungen lernt man ja ständig dazu. Zum Beispiel weiß ich heute, dass Punks, die ich sozialisierungsbedingt früher für gemeingefährliche Asoziale hielt, die harmlosesten Menschen der Welt sind – je mehr Tätowierungen, desto friedfertiger. Ein derart seltsames Publikum wie neulich im Roten Salon ist mir aber noch selten untergekommen. Um uns herum lauter traurige Gestalten, die aussehen, als wären sie viel lieber noch ein paar Stunden im Büro geblieben oder säßen zu Hause mit einer Tüte Lakritz und einem Ingmar-Bergman-Film im DVD-Spieler auf dem Sofa. Voller Unbehagen nuckeln sie an ihrem ersten und einzigen Bier des Jahres. Dass es ausgerechnet Berliner Pilsner sein muss – das kein Bier ist, sondern ein Verbrechen, sagt mein Mann –, stimmt mich nachgerade betroffen. (Ich weiß schon, was Sie denken: Jemand, der von einer Insel kommt, auf der das Bier lauwarm serviert wird, sollte sich kein Urteil über die deutsche Braukunst erlauben. Mag ja stimmen, nur leider haben die Menschen von jener Insel die Angewohnheit, sich über alles und jedes ein Urteil zu erlauben, schließlich gehörte ihnen mal die halbe Welt.)

Ein paar Reihen vor uns wird es auf einmal laut. Noch vor wenigen Minuten interessierte man sich dort vornehmlich für die Leuchtanzeigen der eigenen Handys, wo anscheinend weitaus Spannenderes vor sich ging als auf der Bühne („hi, bin grad am SMSen & was machst du?“), nun hat jemand seinen inneren Höhlenmenschen entdeckt. „Was soll denn die Scheiße!“ brüllt er. „Du kannst dich doch nicht einfach vor uns stellen! Wir haben schließlich auch Eintritt bezahlt!“ Seine Freundin streichelt ihm dankbar den Arm. Auch ich bin ganz hin und weg von soviel Imponiergehabe. Einen Moment lang sieht es tatsächlich aus, als wollten sie sich gegenseitig die Designerbrillen zertrümmern.

„Du, Schatz“, säusele ich, so gut ich eben säuseln kann. „Guck mal, da steht einer vor mir.“ Mein Liebster nimmt mir die Flasche aus der Hand und trinkt sie leer. „Du bist sowieso mit Bierholen dran“, sagt er. „Bring mir ein Berliner Pilsner mit!“

Abschied
Aus dem Kiez
Coaching
Das Krimi-Experiment
Dies und Das
Feierabend
Kommunikation
Kreatives Schreiben
Leben
Lost in Translation
Nachgedacht
Schnappschüsse
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