Konzertkritik

Als bessere Hälfte eines Musikjournalisten und bekennenden Vinyl-Freaks macht frau einiges mit. Und damit meine ich nicht nur die regelmäßigen Ausflüge zum schwedischen Einrichtungshaus unser aller Vertrauens, um mehr Regalmeter für die Plattensammlung anzukaufen. Wir gehen auf Punkkonzerte, auf Rockkonzerte, Popkonzerte, Soul-All-Nighters, zu Open-Air-Veranstaltungen und in schummrige Kneipen. Wir sehen die Legenden von vorgestern und die Wunderkinder von übermorgen. Wir treiben uns auf der Popkomm und der British Music Week herum und natürlich auf dem wunderbarsten Festival der Welt. Meistens ist der Großteil des Publikums halb so alt wie wir, manchmal sind die Herrschaften auf der Bühne doppelt so alt wie wir, und manche von den Indie-Kids mit ihren knallengen Röhrenjeans und waidwunden Herzen – soviel zarter besaitet als ihre windschnittigen Gitarren –, die gestern noch im Stimmbruch waren und heute schon von Weltschmerz und Liebeskummer singen, würde ich am liebsten mit nach Hause nehmen und mal so richtig bemuttern.

Ich halte zweieinhalb Stunden lang den Atem an, damit Bob Dylan ja nicht aufhört zu singen ... nur noch ein Lied ... und danach noch eins ... ein allerletztes ... bitte, bitte, nur ein einziges, klitzekleines, winziges ... wie wär‘s mit „Lily, Rosemary and the Jack of Hearts“? ... „Tangled Up in Blue“? na klar, auch nicht schlecht!* ... und bete, dass die Black Lips endlich ihre Instrumente einpacken, damit ich ins Bett kann. Lustlose Live-Auftritte von Wilco, den Vines oder den Kings of Leon beweisen, dass viel Testosteron noch lange keinen geilen Abend garantiert. Den Pretty Things dagegen, immerhin rüstige Herren um die Sechzig, verübeln wir nicht einmal die anschließende anderthalbstündige Nachtbusfahrt quer durch den Berliner Winter. Holly Golightly, die mal ungefähr fünf Minuten lang supercool war, nachdem sie mit den White Stripes am Mikro stand, verpassen wir niemals, ob sie in Szeneschuppen in Mitte oder Kultclubs im Prenzlauer Berg auftritt.

* Wenn mir irgendwann gar nichts anderes einfällt, erzähle ich vielleicht mal von dem Straßenmusiker, mit dem ich vor vielen, vielen Jahren in Istanbul unterwegs war, auch so ein Möchtegern-Dylan mit ein bisschen Talent und großen Träumen. Was aus dem wohl geworden ist? Leider hört mein Liebster nicht gerne solche Geschichten aus meiner wildbewegten Jugend, dabei war seine eigene viel wilder und bewegter. Der Praktikant dafür um so lieber – allemal besser als Arbeiten, stimmt‘s? Aber weiter im Text.

Jackson Browne beglückt uns mit einem Wunschkonzert, wechselt auf Zuruf die Gitarre und stimmt das nächste Lied an. Wir lassen uns von Joan as Police Woman bezaubern, von den BellRays ordentlich einheizen, von Mercury Rev ins Feenreich entführen. Wir rocken in ausverkauften Hallen zu Arcade Fire und den Raconteurs, wundern uns, warum Vic Chesnutt oder die Fiery Furnaces immer noch Geheimtips sind. Dem Café Zapata im Tacheles werden wir manche Träne nachweinen, auch weil hier Joanna Newsom ihre Harfe aufgestellt hat, lange bevor Schicki und Micki sie in gepflegtem Theaterambiente sehen wollten.

Weil mein Liebster so ein guter Mensch ist, begleitet er mich zum Heimspiel von Element of Crime in der Arena und Wir sind Helden in der Wuhlheide. Dafür lasse ich mich breitschlagen, Oasis noch einmal eine Chance zu geben, auch wenn es Januar ist und in Strömen auf vereiste Bürgersteige regnet, und lausche in der schwülsten Nacht des Jahres schweißgebadet und hundemüde dem Sirenengeheul der Yeah Yeah Yeahs. Bei Eric & Amy stehen wir Hand in Hand ganz vorne und freuen uns, dass nicht nur wir, sondern auch sie einander gefunden haben.

Im Zuge solcherlei Milieubeobachtungen lernt man ja ständig dazu. Zum Beispiel weiß ich heute, dass Punks, die ich sozialisierungsbedingt früher für gemeingefährliche Asoziale hielt, die harmlosesten Menschen der Welt sind – je mehr Tätowierungen, desto friedfertiger. Ein derart seltsames Publikum wie neulich im Roten Salon ist mir aber noch selten untergekommen. Um uns herum lauter traurige Gestalten, die aussehen, als wären sie viel lieber noch ein paar Stunden im Büro geblieben oder säßen zu Hause mit einer Tüte Lakritz und einem Ingmar-Bergman-Film im DVD-Spieler auf dem Sofa. Voller Unbehagen nuckeln sie an ihrem ersten und einzigen Bier des Jahres. Dass es ausgerechnet Berliner Pilsner sein muss – das kein Bier ist, sondern ein Verbrechen, sagt mein Mann –, stimmt mich nachgerade betroffen. (Ich weiß schon, was Sie denken: Jemand, der von einer Insel kommt, auf der das Bier lauwarm serviert wird, sollte sich kein Urteil über die deutsche Braukunst erlauben. Mag ja stimmen, nur leider haben die Menschen von jener Insel die Angewohnheit, sich über alles und jedes ein Urteil zu erlauben, schließlich gehörte ihnen mal die halbe Welt.)

Ein paar Reihen vor uns wird es auf einmal laut. Noch vor wenigen Minuten interessierte man sich dort vornehmlich für die Leuchtanzeigen der eigenen Handys, wo anscheinend weitaus Spannenderes vor sich ging als auf der Bühne („hi, bin grad am SMSen & was machst du?“), nun hat jemand seinen inneren Höhlenmenschen entdeckt. „Was soll denn die Scheiße!“ brüllt er. „Du kannst dich doch nicht einfach vor uns stellen! Wir haben schließlich auch Eintritt bezahlt!“ Seine Freundin streichelt ihm dankbar den Arm. Auch ich bin ganz hin und weg von soviel Imponiergehabe. Einen Moment lang sieht es tatsächlich aus, als wollten sie sich gegenseitig die Designerbrillen zertrümmern.

„Du, Schatz“, säusele ich, so gut ich eben säuseln kann. „Guck mal, da steht einer vor mir.“ Mein Liebster nimmt mir die Flasche aus der Hand und trinkt sie leer. „Du bist sowieso mit Bierholen dran“, sagt er. „Bring mir ein Berliner Pilsner mit!“

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