Leben

Freitag, 1. Mai 2009

Vom Glück und anderen Schweinereien

Das Leben könnte so schön sein im Moment. Jeden Tag scheint die Sonne, und das schon seit Wochen. Allen meinen Lieben geht es gut, bloß mein Vater zitiert auf Fragen nach seinem Befinden bevorzugt seinen Hausarzt: „auf niedrigem Niveau stabil“. Und meinem Schwager dämmert allmählich, dass Alkohol kein wirksames Mittel gegen Depressionen ist – ausgerechnet in Neuseeland, wo Männer mit Depressionen nach dem Motto If you can‘t fix it with number-nine wire, shoot it lieber zur Schrotflinte als zum Prozac-Döschen greifen: Wenn es sich nicht mit Allzweckdraht flicken lässt, schieß drauf!

Ich habe gerade genug Arbeit, um mir keine allzu großen Geldsorgen machen zu müssen, aber nicht soviel, dass es mich erdrückt. Das Lauftraining macht bei diesem Wetter besonders viel Spaß, die Freiluftkino- und Sommerbad--Saison steht vor der Tür, und auch auf ein paar tolle Konzerte können wir uns freuen. Sogar unser Nachbar, den wir samt Hund schon verschollen fürchteten, ist plötzlich wieder da und zankt so genüsslich wie eh und je mit seiner Frau. Was will ich mehr? Höchstens dies: dass nicht jedes Mal, wenn ich das Radio einschalte, eine Hiobsbotschaft nach der anderen in mein kleines Alltagsglück eindringt. Wer die Wirtschaftskrise überlebt, den wird die Schweinegrippe dahinraffen, oder war es umgekehrt? Wie auch immer, jedenfalls ist Leben eine unheilbare Erbkrankheit mit tödlichem Verlauf – und wehe dem, der das einen Augenblick lang zu vergessen wagt!

„Du darfst die Augen und Ohren nicht vor der Wirklichkeit verschließen“, belehrt mich mein Schatz – dieser große Realist, der mal wieder dabei ist, seine Plattensammlung nach einem neuen System umzusortieren –, wenn ich den Weltuntergangspropheten von der Tagesschau mit einem Griff zur Fernbedienung den Mund verbiete. „Man muss eben vorbereitet sein!“ – „Vorbereitet?“ spotte ich. „Besorg du dir doch erstmal eine Gesichtsmaske in Hertha-Farben für das Spiel gegen Bochum, und dann reden wir weiter.“

„Lieber Heuschnupfen als Schweinegrippe!“ tröste ich eine Freundin, die über ihre roten Augen und geschwollene Nase jammert. Aber alle blöden Sprüche helfen überhaupt nichts, wenn mich morgens um drei mein innerer Weckalarm aus dem Schlaf reißt. Dass solche nächtlichen Beklemmungen tief in den Genen stecken und ursprünglich wohl einen Schutzinstinkt darstellten, damit unsere Vorfahren Überfällen wilder Tiere oder feindlicher Krieger nicht wehrlos träumend ausgeliefert waren – auch das Wissen darum nützt herzlich wenig, wenn die Panik mir den Atem raubt: Panik um unsere finanzielle Zukunft, Panik vor der Schweinegrippe und noch schlimmeren Diagnosen, vor dem Älterwerden und vor lauter Schicksalsschlägen, auf die ich mich überhaupt nicht vorbereiten kann, weil ich keine Ahnung habe, dass sie mir bevorstehen. Dabei ist das Leben so schön!

Mittwoch, 18. Februar 2009

Herzensdinge

„Heimat ist, wo mein Herz ist.“ Dieser Spruch stand auf einer Karte, die mir jemand vor einigen Jahren geschenkt hat. Ich hängte sie an meinen Kühlschrank und glaubte, dass ich tatsächlich Heimat für diesen Jemand geworden sei. Doch leider hatte ich mich getäuscht. Der Mann verschwand wieder aus meinem Leben und die Karte von meinem Kühlschrank. Damals begriff ich nicht, was passiert war. Heute weiß ich, dass man nirgendwo Heimat findet, solange man nicht in sich selbst zuhause ist.

Es gibt Menschen, die sind ständig auf der Jagd. Nach Erfolg, nach Anerkennung, nach Aufmerksamkeit. Erfolg ist für sie, wenn sich das Bankkonto beträchtlich füllt. Anerkennung heißt, dass die Massen ihnen zujubeln. Aufmerksamkeit bedeutet, dass jeder sie kennt. Ich nenne solche Menschen Glücksritter. Aber sie werden ihr Glück nie finden, denn sie suchen es an der falschen Stelle. „Glück ist da, wo mein Herz ist“, könnte ich in Anlehnung an den ersten Spruch sagen und ergänzend hinzufügen: Aber man findet sein Glück nur, wenn man es tief in seinem eigenen Inneren sucht.

Manchmal findet man aber in seinem Inneren nur Leere vor. Das passiert genau dann, wenn man nicht in sich selbst wohnt, sondern stattdessen ständig Untermieter im Leben anderer ist. Wenn man nur aus deren Kühlschrank lebt und für Notzeiten keine eigenen Vorräte anhäuft. Da wäre es dann angebracht, nach Hause zurück zu kehren, die Regale zu entstauben und endlich aufzufüllen.

Ich glaube nicht an Heilsversprechen und den schnellen Erfolg. Ich glaube auch nicht daran, dass man sein Glück auf der Straße finden kann. Aber ich glaube, dass man nicht nur eine Heimat, sondern auch eine große Zufriedenheit findet, wenn man ganz in sich selbst zuhause ist, wenn man bei sich angekommen ist, tief im eigenen Herzen.

Dienstag, 17. Februar 2009

„Reality is where the pizza guy comes from“

Antalya, März 2008: Am Spätnachmittag eines wunderschönen letzten Urlaubstages sitzen mein Liebster und ich auf einer Bank hoch über dem Meer, prosten der allmählich untergehenden Sonne zu und schauen Drachenfliegern zu, wie sie sich von einem Felsen stürzen, minutenlang in der Luft hängen, um dann auf dem steinigen Strand zu landen. In unserem Blickfeld befindet sich auch ein alter Mann mit zwei scheppernden, klirrenden schwarzen Plastiksäcken, der Böschung und Mülleimer nach leeren Flaschen durchwühlt. Schließlich ist er bei unserer Bank angekommen, spricht uns zunächst auf Türkisch an, gibt den Versuch aber schnell auf und wechselt zur Zeichensprache. Gestikulierend bedeutet er uns, wir mögen unsere Bierflaschen doch bitte dort drüben im Gebüsch verstecken, wenn wir sie ausgetrunken haben, damit er sie auf dem Rückweg mitnehmen kann. Kein Problem, nicken wir.

Da gesellt sich ein junger Mann zu uns, gut gekleidet, der mit seiner Freundin oder Ehefrau aus einem teuren Wagen ausgestiegen ist, um ebenfalls die letzten Sonnenstrahlen zu genießen. Wie sich herausstellt, hat er lange auf Zypern gearbeitet und spricht gut Englisch. Er fängt an zu übersetzen, was der Altglas-Sammler gesagt hat. Mein Mann unterbricht ihn: Wir haben schon verstanden, lächelt er. Der junge Türke lächelt zurück und macht uns ein großes Kompliment: „You have a nice understanding of human language“, sagt er.

Am nächsten Abend bin ich mir da nicht mehr so sicher. Zurück in Berlin, gehe ich zum Imbiss, um uns Pizza zu holen. (Falafel isst der Herr Gemahl nicht mehr, seit er gesehen hat, dass der Salat mit demselben Utensil ins Brot geschaufelt wird wie das Döner-Fleisch. Dadurch haben sich die Optionen für vegetarische Schnellkost in unserem Kiez drastisch reduziert.) Der Betreiber der Pizza-Bude ist Palästinenser, und weil er im Moment keine anderen Kunden hat, erzählt er mir von seiner verlorenen Heimat. „Mein Herz ist Stein geworden“, bekundet er voller Inbrunst, gerade als unsere Pizza aus dem Ofen kommt. „Das macht sieben Euro.“

So gut ich die menschliche Sprache beherrschen mag, sind wir – Nazi-Enkelin und Mann ohne Raum – doch nur zwei Rädchen im Getriebe der Dienstleistungsgesellschaft, und ich weiß keine bessere Antwort, als ihm mit einem gemurmelten „Stimmt so“ acht Euro auf den Tresen zu legen und mit meiner Pizza die Flucht zu ergreifen: Spinat, Feta und Spiegelei – in der Jerusalemer Altstadt wird diese Kombination an jeder Ecke als „arabische Pizza“ verkauft, in Neukölln heißt sie Ausländerpizza.

Mittwoch, 4. Februar 2009

Zufriedenheit am Arbeitsplatz

Neulich habe ich von meinem allerersten Chef geträumt. Er war damals als Reitlehrer und Stallmeister für das Wohl und Wehe von zwanzig bis dreißig Pferden zuständig, ich sein Mädchen für alles. Es war einer der härtesten und am schlechtesten bezahlten – und bei weitem der befriedigendste Job, den ich je hatte. Sechs Tage die Woche verteilte ich Futter, mistete Boxen aus, hielt auf, wenn der Hufschmied kam, lud Heu und Stroh vom Wagen auf den Dachboden, wenn der Lieferant kam, fuhr mit dem Trecker den Misthaufen platt, half Reitschülern beim Putzen und Satteln und fror mir öfters beim Unterricht in der Halle Hände und Füße ab, während mein Chef in seinem warmen Büro saß und übers Mikrofon Anweisungen erteilte. Im Winter vereisten mir manchmal schon bei der halbstündigen Fahrradfahrt im Morgengrauen die Nasenhaare.

Mein Gehalt reichte gerade aus, um mein eigenes Pferd durchzufüttern. Mein Chef war launenhaft wie alle Chefs, mit denen ich im Laufe meines Berufslebens zu tun hatte, und an manchen Tagen konnte man ihm gar nichts recht machen. Aber meistens verstanden wir uns prima. Obwohl der Altersunterschied kaum zehn Jahre betrug – ich war Anfang Zwanzig, er Anfang Dreißig –, siezte ich ihn so selbstverständlich, wie er mich duzte.

Für die Mädchen, die ihre gesamte Freizeit im Stall verbrachten und um Pflegepferde oder auch nur um das Privileg buhlten, eines der Privatpferde trockenreiten zu dürfen, war ich halb große Schwester, halb großes Vorbild. Nur die Akademiker unter den Pferdebesitzern, Kollegen meines Vaters, wussten überhaupt nicht, wie sie mich behandeln sollten: als höhere Tochter oder niedrige Dienstmagd? Auch das verschaffte mir eine gewisse Befriedigung.

Aber das Beste an dieser Arbeit war, dass sich die Sinnfrage, die mich seither mal mehr, mal weniger plagt, überhaupt nicht stellte: Wer einmal ein paar Jahre lang jeden Morgen ein Stalltor aufgestoßen hat und mit einem vielstimmigen Wiehern willkommen geheißen wurde, weiß, was es heißt, etwas Nützliches zu tun.

Montag, 26. Januar 2009

Frauenhaus

Wir sind eine Gesellschaft von Einzelgängern geworden, das macht sich vor allem beim Wohnen bemerkbar. Die Wohnungen an sich werden zwar immer größer, doch die Personenzahl, die darin lebt, schrumpft kontinuierlich. In den kleinen Wohnungen hier im Haus zum Beispiel lebten früher vier- und fünfköpfige Familien. Das wäre heute undenkbar, bei 47 Quadratmetern und zwei Zimmern. Inzwischen wohnen hier hauptsächlich Singles und einige Pärchen. In Großstädten überwiegen mittlerweile die Einpersonenhaushalte, in Hamburg sollen es weit über 60 Prozent sein, Tendenz steigend.

Im Vergleich zur Großfamilie bringt das Wohnen alleine viele Vorteile mit sich: individuelles, selbstbestimmtes Leben, Ungebundensein, Unabhängigkeit. Doch die Freiheit, das hässliche Gemälde aufhängen zu können, an dem man so hängt, beim Schlafen der eigenen inneren Uhr zu folgen und nicht der des Partners oder der Kinder und die Nutella mit niemandem teilen zu müssen, hat ihren Preis. Wer alleine lebt und obendrein auch noch Single ist, kämpft oft mit Einsamkeit und dem Gefühl, nicht vollständig zu sein. Manchmal wäre es eben doch ganz schön, nicht nur die Stimmen aus dem Fernseher zu hören, wenn man müde von der Arbeit kommt. Es wäre netter, nicht alleine frühstücken zu müssen. Es würde mehr Spaß machen, das Glas Wein auf dem Balkon gemeinsam mit jemandem trinken zu können. Und wenn es darum geht, ein Regal aufzubauen oder schwere Möbel zu schleppen, wünscht sich so mancher Single nicht selten jemanden, der wenigstens mal mit anpacken würde.

Für die Partnersuche sind Singlebörsen zuständig, die wie verrückt boomen. Für die Organisation des Alltags und ein angenehmes Gemeinschaftsgefühl kann auch schon eine gute Nachbarschaft hilfreich sein. Aus dieser Idee heraus entstehen immer mehr Wohnprojekte. Die WG der 80er Jahre hat ausgedient, heute sind individuelle Lösungen gefragt. Das heißt, jeder Mieter hat seine eigene Wohnung, aber es gibt zusätzliche Gemeinschaftsräume und das Bemühen, der Anonymität mit bewusster Kontaktpflege entgegen zu treten. Solche Projekte entstehen in der Regel für bestimmte Zielgruppen: Jung und Alt unter einem Dach, oder nur Senioren oder nur Frauen. Wohnraum für weibliche Singles organisiert beispielsweise der Verein Arche Nora. In Hamburg sind bereits mehrere Projekte realisiert worden und neue schon in Planung. Der Clou dabei: Bauherren und Eigentümer sind Wohnungsbaugenossenschaften, so dass die Mitglieder des Wohnprojekts lediglich einen recht günstigen Mietzins zahlen müssen. Das Leben in diesen Wohnungen ist also auch für Frauen mit schmalem Geldbeutel möglich. Die Frauen können bei Neubauten Einfluss auf den Grundriss nehmen und ihre Wohnungen ganz individuell gestalten, fast so, als seien sie Eigentümer. Auf der Website von Arche Nora heißt es: „Im Vordergrund steht der Wunsch, die Eigenständigkeit zu bewahren und gleichzeitig im Rahmen eines sozialen Netzwerks im Ernstfall Hilfe zu finden sowie die Möglichkeit, durch gemeinsame Aktivitäten das Leben zu bereichern.“

Ich finde solche Projekte großartig, gerade, wenn es um generationenübergreifendes Miteinander geht. Denn eine altengerechte Wohnung in gut organisierter Nachbarschaft kann eine tolle Alternative zum Seniorenheim sein – zumal sie möglicherweise erheblich kostengünstiger ist. Was mich allerdings beschäftigt, ist die Frage, worin der Nutzen bei diesen reinen Frauenprojekten liegt. Sind diese Wohnungen für Frauen gedacht, die mit Männern so schlechte Erfahrungen gemacht haben, dass sie ihnen bewusst aus dem Weg gehen möchten? Haben sie Angst vor übergriffigen Nachbarn? Da die Hausgemeinschaft in der Regel demokratisch entscheidet, wer mit im Haus wohnen darf, damit die Chemie stimmt, sollte aber eigentlich keine Gefahr bestehen, dass man sich einen Mann ins Haus holt, den seine Nachbarinnen nur schrecklich finden.. Ich sehe nämlich eigentlich eher einen Vorteil darin, auch den einen oder anderen Mann im Haus zu haben – z.B., wenn große körperliche Kraft gefragt ist. Oder einfach nur, um Zickenalarm vorzubeugen, weil so ein reines Frauenhaus ja durchaus mal zum Hühnerhof mutieren kann. Oder sehe ich da etwas falsch?

Montag, 12. Januar 2009

Tomaten im Dezember

Früher aßen die Menschen mit den Jahreszeiten. Im Sommer gab es frisches Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten, im Winter Eingemachtes, Gepökeltes, Getreide und Wintergemüse wie Kohl. Doch in einer Welt, in der man Jahreszeiten nur noch an der Mode festmacht (im Sommer leichte Kleidung und Sandalen, im Winter Wollmützen und Stiefel), sieht es in der Gemüseabteilung des Supermarkts das ganze Jahr über mehr oder weniger gleich aus. Gurken, Tomaten, Auberginen, Paprika findet man von Januar bis Dezember in jedem deutschen Laden, der Gemüse verkauft. Mittlerweile liegen in der Obstecke zwischen Orangen und Äpfeln sogar auch immer häufiger Kirschen und Erdbeeren, unabhängig von den Monaten, in denen sie in unseren Breiten gedeihen.

Die permanente Verfügbarkeit von Produkten, die in Deutschland nur zu bestimmten Zeiten wachsen, hat leider einen erheblich höheren Preis, als der Kunde bereit ist zu zahlen. Gerne vergessen wir, dass irgendwo auf dieser Welt Menschen ausgebeutet werden, damit wir billig und rund um die Uhr konsumieren können. Meistens leben und arbeiten diese Menschen so weit weg von uns, dass es sehr einfach ist, die Umstände zu verdrängen, unter denen unsere Kaffeebohnen angebaut, der Orangensaft hergestellt, die Jeans genäht wurde. Doch wie sieht es aus, wenn wir auf einmal entdecken, dass in einem unserer liebsten Urlaubsländer, mitten in Europa Menschen unter unwürdigen Umständen leben und arbeiten – damit wir uns den fragwürdigen Luxus von Tomaten im Dezember leisten können.

Im Altonaer Einkaufszentrum Mercado ist noch bis zum 17. Januar unter dem Titel "Gekentert im Plastikmeer" eine Ausstellung von Bodo Marks und Shelina Islam zu sehen. Die Beiden haben Menschen fotografiert, die in Almería in Südspanien in riesigen Gemüse-Plantagen arbeiten, die Hälfte von ihnen ohne Papiere, ohne Rechte. Sie sind Migranten aus Marokko und dem südlichen Afrika und verhelfen der spanischen Agrarwirtschaft zu einem enormen Geschäft, während sie Pestizide ohne Schutzkleidung ausbringen müssen, in Behausungen ohne Elektrizität und Trinkwasser hausen, für einen Hungerlohn bis zu 16 Stunden täglich schuften, Opfer von Gewalt werden. Ihren Arbeitgebern scheint es sehr gelegen zu kommen, dass sie Illegale sind und somit niemand nach ihren Rechten fragt.

Auch wir fragen nicht, sondern nehmen es als Selbstverständlichkeit hin, dass wir auch im Winter im Supermarkt frische Tomaten kaufen können, für knapp zwei Euro das Kilo. Wer nicht länger wegschauen möchte, sollte sich die Ausstellung ansehen, die in eindrücklichen Bildern kleine Geschichten erzählt, die unter die Haut gehen und den Preis bewusst machen, den andere Menschen für unseren Lebensstandard zahlen müssen.

Dienstag, 30. Dezember 2008

Rückwärts vorwärts

Ich mag Jahresrückblicke. Sie zeigen mir immer, dass in den letzten zwölf Monaten doch eine ganze Menge passiert ist und die Zeit keineswegs einfach nur so dahin rauschte, wie ich oft glaube. Ich schaue mir gerne die Jahresrückblicke im Fernsehen an und bin immer wieder berührt und bewegt von Ereignissen, die überhaupt nichts mit mir zu tun haben. Aber diese geballte Ladung aus Glück und Unglück führt mir indirekt mein eigenes Glück und Unglück vor Augen. Ich stelle angesichts von Naturkatastrophen, Kriegen und vielen großen, persönlichen Tragödien fest, dass ich selbst noch mal davon gekommen bin, dass mein Jahr viel besser war, als ich in den letzten Monaten manchmal dachte.

Besonders berührend finde ich jedes Mal die Momente, in denen an verstorbene Prominente erinnert wird. Große Namen, die uns oft über viele, viele Jahre wundervoll unterhalten haben. Nun sind sie dahin. Manchmal denke ich dann, dass es keine Nachfolger für sie gibt, dass keiner von den Jungen einem Paul Newman das Wasser reichen kann, dass es nie mehr so gut wird wie damals, als Walter Matthau und Jack Lemmon sich hinreißende (Wort-)Duelle geliefert haben oder Marlon Brando der Pate war. Das stimmt natürlich nicht, es liegt nur daran, dass sie alle alte Männer waren, als sie starben und auf viele Jahrzehnte Ruhm zurück blicken konnten. Ein George Clooney oder Brad Pitt werden sicher mal eine ähnliche Lücke hinterlassen, vorausgesetzt, sie halten ihren Erfolg noch ein paar Jahrzehnte aufrecht und altern in Würde.

Meine eigenen Jahresrückblicke verschwimmen gerne etwas. Ich halte mein Leben nicht so akribisch in Wort und Bild fest, dass ich jeden Monat, vielleicht sogar jeden Tag rekonstruieren könnte. Ich hangele mich an einigen wenigen Fixpunkten entlang, die besondere Höhe- oder Tiefpunkte für mich markieren. Aneinander gereiht ergeben sie mein persönliches, vergangenes Jahr, eine Handvoll Erinnerungen, die das Gefühl hinterlassen, dass die Zeit viel zu schnell verging und das Jahr viel zu kurz war. Und gleichzeitig merke ich aber bei diesen Rückblicken, dass auch mein kleines Leben angefüllt ist mit großen Ereignissen, dass es Monate gibt, in denen sich viel bewegt, Tage, die ich mein Leben lang nicht vergessen werde und viele, viele Augenblicke, die gleichmäßig in der Banalität des Alltags dahin schwimmen. Gerade sie machen das Leben aus, nicht die großen Momente, in denen man im Rampenlicht steht. Die Summe meines Lebens besteht aus vielen, vielen Frühstücken, mal hastig zwischen Tür und Angel eingenommen oder gleichgültig nebenbei erledigend, während ich schon am Schreibtisch sitze, mal aber auch ausgiebig in gemütlicher Runde mit Freunden oder der Familie zelebriert. Mein Leben, das sind Hunderte langweiliger S-Bahnfahrten von A nach B, das sind ganze Stunden, die ich wartend an Supermarktkassen verbracht habe, es sind viele, viele Mal Essen kochen, Putzen, Wäsche waschen, zur Toilette gehen und Duschen.

Das Erstaunliche ist jedoch, dass in der Erinnerung nicht haften bleibt, wie lange ich in der Kälte auf dem Bahnhof stand und auf einen Zug wartete. In der Erinnerung sehe ich mich mit Kollegen in Berlin in einer Kneipe sitzen, essen und lachen. Ich erinnere mich sehr genau an unsere Gespräche und daran, was ich gegessen habe. Das ist das Entscheidende an der Geschichte, nicht die langweilige und unvermeidliche Reise. So gesehen bin ich eigentlich ganz froh, dass ich in meinem Gedächtnis nur festhalte, was mein Hirn für entscheidend hält und nicht zu jenen armen Menschen gehören, die jeden einzelnen Augenblick ihres Lebens für immer im Kopf gespeichert haben.

Aus der Erinnerung an das vergangene Jahr kann ich Kraft schöpfen. Es ist doch ganz schön viel passiert. Es ging auf und ab, vor allem aber ging es vorwärts. Mit diesem Gefühl starte ich nun ins neue Jahr: dass es vorwärts geht, wohin auch immer. In diesem Sinne danke ich den Lesern, die dieses Blog-Experiment voller Neugier und Treue auf seinen ersten Schritten ins Leben begleitet haben. Ich freue mich sehr, wenn Sie im neuen Jahr auch wieder vorbei schauen. Rutschen Sie gut in ein Jahr voller Glück und Erfüllung, voller Ruhe und Entspannung, aber auch voller Energie und Aktivität. In der Mitte liegt die Kraft. Das gilt für so ziemlich alles im Leben.

Sonntag, 16. November 2008

Rituale

Ich bin ein großer Fan von Ritualen. Sie helfen uns, Übergänge zu gestalten, Abschied zu nehmen, loszulassen, neu anzufangen. Rituale markieren Lebensabschnitte, von der Geburt bis zum Tod. Sie helfen aber auch, Struktur in unseren Alltag zu bringen. Das regelmäßig Wiederkehrende, Gleichförmige kann Ruhe und Klarheit in unser Leben bringen und uns Sicherheit geben. Mahlzeiten können zum Beispiel wichtige Alltagsrituale darstellen. Man nimmt sie zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten ein. Vielleicht geht man mittags immer mit denselben Kollegen in die Kantine und sitzt sogar am selben Tisch. Vielleicht zündet man zuhause immer eine Kerze an und deckt den Tisch auch im Alltag schön. Auch die Art, wie wir unsere Liebsten begrüßen und verabschieden, kann ein Ritual darstellen. Oder wie wir aufstehen und zu Bett gehen.

Ich habe zum Beispiel tagsüber immer alle Zimmertüren in meiner Wohnung geöffnet. Dadurch erscheint mir die Wohnung größer, weiter, lichtdurchlässiger. Wenn ich ins Bett gehe, schließe ich jedoch die Schlafzimmertür. Ich fühle mich dann geborgener, schaffe mir eine kleine Höhle und lasse Kälte und Dunkelheit symbolisch vor der Tür. Morgens gehe ich immer zuerst duschen und ziehe mich an, bevor ich irgendetwas anderes mache. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die im Schlafanzug Kaffee trinken oder sich gar schon an den Schreibtisch setzen. Mein Tag fängt verkehrt an, wenn ich eine andere Reihenfolge wähle und ich fühle mich dann meistens den ganzen Tag über irgendwie "falsch". Ich kann dieses Ritual nur durchbrechen, wenn ich anderswo zu Besuch bin. Bei meiner Schwester sitze ich oft bis mittags mit Strubbelhaaren und im Nachthemd in der Küche, frühstücke und spiele mit den Kindern. Das, was sich zuhause für mich falsch anfühlt, erscheint mir dort auf einmal nett und als ein Zeichen von Gemütlichkeit und Entspannung.

Nach einer gescheiterten Beziehung brauche ich meistens lange, um zu begreifen und auch zu akzeptieren, dass es keinen Neubeginn mehr gibt. In meiner Wohnung stehen noch überall die Fotos des Ex-Liebsten und Dinge, die er mir geschenkt hat und die eine große Bedeutung für mich hatten. Irgendwann aber kommt der Punkt, an dem es nicht nur in meinem Kopf „klick“ macht, sondern sich auch mein Herz vollständig von dem Mann löst. Das kann viele Monate nach der offiziellen Trennung sein. Diesen Moment begehe ich ganz bewusst. Ich räume die Fotos weg, während ich mich noch einmal erinnere. Ich werfe Dinge fort, die nur noch mit Schmerz und nicht mit Liebe behaftet sind. Anderes verstaue ich in einer Kiste, die ich in meinen Keller stelle. Einmal habe ich sogar in einer feierlichen Zeremonie ein Foto verbrannt. Bilderverbrennung ist seit Urzeiten ein kraftvolles Ritual, um sich von jemandem oder etwas loszusagen. Es half mir persönlich, das Band zwischen dem Mann und mir zu lösen, Abstand zu gewinnen und bewusst einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen – und zwar alleine.

Während ich aufräume, spreche ich liebevolle Abschiedsworte. Egal, wie viele Unstimmigkeiten es zwischen dem Mann und mir am Ende auch gab, ich möchte sie nicht weiter mit mir herum tragen. Ich wünsche ihm alles Gute und spreche bei diesem Abschiedsritual noch einmal ganz für mich alles aus, was mir auf dem Herzen liegt. Ich spreche von meinen Sehnsüchten und meiner Trauer ebenso wie von meinem Zorn, meiner Enttäuschung, meiner verlorenen Liebe und dem Wunsch, nun weiter zu gehen – ohne diesen Mann. Nach diesem Abschiedsritual fühle ich mich wie befreit. Vielleicht vergieße ich ein letztes Mal Tränen und spüre dieser verlorenen Liebe nach. Doch anschließend schaue ich voller Zuversicht und Erleicherung in die Zukunft. Ich habe losgelassen.

Dienstag, 4. November 2008

Hoffnung

Grau und dunkel kommt er daher, der November. Morgens ist es neblig, kalt und feucht. Tagsüber wird es kaum besser, und die Dämmerung setzt täglich früher ein. Solche Tage sind für Depressionen bis hin zum Selbstmord wie geschaffen.

Früher, da gab es wenigstens noch Schnee und Eis im Winter, da hatte man richtig Spaß beim Rodeln und Schlittschuhlaufen. Und der Schnee ließ die Welt immer gleich viel heller und freundlicher erscheinen. Hach, was war das gemütlich, wenn man an der warmen Heizung sitzen und den Schneeflocken zuschauen konnte, die sanft vom Himmel schwebten. Und jetzt? Die Alster war 1997 zum letzten Mal so zugefroren, dass man sie offiziell betreten durfte. Dank des Klimawandels wurde es in Norddeutschland im neuen Jahrtausend bisher nie wieder so kalt, und das wird sich vermutlich auch nicht ändern. Wehmut macht sich breit über all die Veränderungen und Verluste.

Ich seufze leise und schaue auf den Kalender. Allerseelen, Volkstrauertag, Ewigkeitssonntag. Nicht ohne Grund sind die Feiertage im Kirchenjahr so verteilt, dass ausgerechnet im November die sogenannten „Stillen Tage“ liegen. Wir erinnern uns an Verluste, Abschiede, Schmerz und Leid. Mehr Dunkelheit geht kaum.

Ich zünde an diesen Tagen stets Kerzen auf den Gräbern meiner verstorbenen Angehörigen an und finde jedes Mal, dass die kleinen roten Grablichter eine wehmütige Stimmung verbreiten, während sie versuchen, die Dunkelheit zu durchdringen. Im November fällt es schwer, Zuversicht zu entwickeln. Der ganze Winter liegt noch vor uns, wie soll man das nur aushalten, wenn man die Dunkelheit jetzt schon nicht mehr erträgt?

Die Kirchen haben das sehr trickreich gelöst und lassen den Stillen Tagen die Adventszeit folgen. Licht, Hoffnung, Zuversicht. Was will man mehr? Und wer diesen kirchlichen Tagen keine Bedeutung abgewinnen kann? Nun, der folgt einfach dem Rhythmus der Jahreszeiten: Bis Mitte Dezember werden die Tage immer kürzer – Depressionen inklusive. Kurz vor Heilig Abend (am 21. oder 22. Dezember) ist Sonnenwende und ab da geht es wieder spürbar aufwärts und auch die Feste werden gleich viel ausgelassener – Weihnachten, Silvester, Neujahr. So viel geballten Spaß gibt es sonst nur noch an Karneval.

Und eines Tages gibt es vermutlich auch wieder eine weiße Weihnacht und überhaupt einen ganz winterlichen Winter, da bin ich mir sicher. Denn bekanntlich stirbt ja die Hoffnung immer zuletzt.

Montag, 6. Oktober 2008

Die totale Erinnerung

Manchmal fluche ich ganz schön über mein schwaches Gedächtnis. Was habe ich meiner Schwester letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt? Doch hoffentlich nicht das Buch, das ich gestern für sie gekauft habe? Und wo habe ich vor zwei Jahren Ostern verbracht? Zuhause bei meiner Familie? Oder habe ich in dem Jahr diesen total verregneten Nordseeurlaub gemacht? Ich kriege das erst wieder zusammen, wenn ich mir alte Fotos und das dazu gehörige Datum ansehe.

Im Gegensatz zu meinem ständig schwächer werdenden Kurzzeitgedächtnis funktioniert mein Langzeitgedächtnis sehr gut. Ich kann mich an Ereignisse erinnern, die zurück bis in meine ersten zwei Lebensjahre gehen. Manche herausragenden Momente sind geradezu fotografisch genau in meinem Gedächtnis eingebrannt. Ich weiß, was ich an diesen Tagen für Kleidung getragen habe, wie das Wetter war und was ich unternommen habe. Dennoch sind das nur winzige Ausschnitte aus meinem Leben, die zu einem großen Ganzen verschmelzen. Tausende von Tagen und Stunden sind einfach im Nichts verschwunden. Und mit ihnen gute und schlechte Gefühle. Zurück bleiben vage Erinnerungen, verbunden mit deutlich entschärften Gefühlsregungen, die ich im Laufe meines Lebens immer wieder reflektiert habe und heute als Erwachsene wahrnehme und nicht etwa als zehnjähriges Kind.

Das ist sicher gut so, denn was geschieht, wenn man nicht vergessen kann, das erlebt die Amerikanerin Jill Price, die seit ihrem achten Lebensjahr jeden einzelnen Tag ihres Lebens im Kopf gespeichert hat. Soeben ist über ihr Leben, das für sie zu einem Alptraum wurde, ein Buch erschienen. Wie soll man vergeben und verzeihen, wenn man nie vergessen kann? Wie soll man den Verlust geliebter Menschen verarbeiten, wenn man in einer Endlosschleife wieder und wieder den Moment des Abschieds so genau vor sich sieht, als hätte man soeben einen Film gesehen? Wie kann man sich weiter entwickeln, wenn man immer nur in der Vergangenheit festhängt?

Ich möchte nicht mit Jill Price tauschen. Ein gutes Gedächtnis kann zwar manchmal sehr hilfreich sein, doch nicht ohne Grund legt unser Gehirn viele Erlebnisse im Unterbewussten ab. Sie würden uns nur in unserer Entwicklung blockieren. Ich finde es zwar schade, dass in meiner Erinnerung vieles verschwimmt und ich z.B. nicht mehr genau weiß, wie eigentlich die Falten im Gesicht meiner Großmutter aussahen. Dafür kann ich mich aber auch nicht mehr an all die Momente erinnern, in denen sie mit mir geschimpft hat. Und das ist gut so! Als Gedächtnisstützen für bestimmte Ereignisse habe ich meine Tagebücher und Fotos. Oder Freunde und Familie, die manchmal ganz andere Dinge erinnern als ich. Das ist dann auch sehr spannend.

Abschied
Aus dem Kiez
Coaching
Das Krimi-Experiment
Dies und Das
Feierabend
Kommunikation
Kreatives Schreiben
Leben
Lost in Translation
Nachgedacht
Schnappschüsse
Singles
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