Coaching mit Frau M. – Teil 2

Es ist einige Zeit vergangen, seit Frau M. ihre erste Coaching-Sitzung bei mir hatte. Heute ist unsere zweite Arbeitsstunde. Ich frage sie, wie es ihr in der Zwischenzeit ergangen ist.
„Ganz gut“, sagt Frau M. „Die Feiertage waren sehr schön, weil meine Kinder da waren und wir wie früher alle zusammen waren.“
Hat unsere gemeinsame Arbeit mit dem Lebensrad noch bei ihr nachgewirkt?
„Ja, schon. Ich war überrascht, wie viel Traurigkeit und Erschöpfung ich bei gewissen Themen verspürt habe. Ich wüsste gerne, wo das her kommt.“
Ich denke auch, dass es wichtig ist, diesen bedrückenden Emotionen nachzugehen. Aber soll das heute schon zum Thema werden, oder hat Frau M. vordergründig ein ganz anderes Anliegen?
„Was ist denn Ihr Ziel für unsere heutige Arbeit? Was möchten Sie erreichen?“ frage ich.
„Ich würde gerne mehr Klarheit darüber kriegen, wie es bei mir beruflich weiter gehen kann. Ich brauche ein paar Ideen“, sagt Frau M. Damit steht fest: Die tiefer liegenden Themen sind noch nicht dran. Es liegt ganz bei Frau M., was wir bearbeiten und in welche Richtung wir uns bewegen.

Ich stelle Frau M. einige Fragen über ihren beruflichen Werdegang und frage sie schließlich, was ihr denn in Zukunft wichtig sei.
„Ich möchte unter Leuten sein“, sagt sie sehr schnell. „Ich möchte Geld verdienen, um finanziell etwas unabhängiger zu sein und auch meine Kinder in der Ausbildung besser unterstützen zu können.“
„Und was noch?“ frage ich.
„Ich möchte Anerkennung kriegen.“ Sie zögert. „Zufriedenheit ist mir wichtig. Und das Gefühl, gebraucht zu werden.“
Möchte sie in ihren alten Beruf zurück kehren? Frau M. war Sekretärin in einer großen Firma. Die Arbeit hat ihr damals viel Spaß gemacht, aber sie ist realistisch:
„Ich bin viel zu lange raus aus allem. Ich kenne mich mit den modernen Computerprogrammen nicht aus. Und mein Englisch ist auch schlecht, aber das braucht man heute fast überall.“ Sie lässt die Schultern hängen und sieht unglücklich aus. „Außerdem will so eine alte Schachtel wie mich doch niemand mehr haben.“
„Nun ja“, sage ich freundlich, „Sie müssen sich ja auch nicht gleich als Assistentin der Geschäftsführung bewerben. Aber es gibt sicher auch für Sie Möglichkeiten für einen Neustart. Können Sie sich denn vorstellen, etwas ganz anderes zu machen?“
Frau M. nickt, schweigt, denkt nach. Schließlich sagt sie leise und sehr vorsichtig, als traue sie sich kaum, es auszusprechen:
„Ja, schon. Manchmal hab ich gedacht, irgendwo ehrenamtlich anzufangen, mit Kindern zu arbeiten oder so. Aber ein bisschen Geld wäre natürlich auch nicht schlecht.“
Ich finde das eine sehr gute Idee. In einem Ehrenamt ist man nicht so unter Druck und kann sich ausprobieren. Doch Frau M. ist ratlos. Wo soll sie sich hinwenden? Wie anfangen? Sie kommt mir vor wie ein Bär, der behäbig aus dem Winterschlaf in den Frühling tappt und sich zwischen all dem frischen Grün und in der hellen Sonne erst mal orientieren muss. Die Welt da draußen sieht ganz anders aus als im vergangenen Herbst, als der Bär in seine Höhle kroch, und doch ist es immer noch dieselbe Welt.

Ich schlage Frau M. eine Übung vor, die ihr bei ihrer Zielfindung helfen kann. Sie willigt ein und ich bitte sie, aufzustehen und mit mir in die Mitte des Raumes zu kommen. Ich erkläre Frau M. das Prinzip der Walt Disney-Strategie. Diese Übung dient dazu, kreative Prozesse in Gang zu bringen. Ich lasse Frau M. drei farbige Karten beschriften, die sie im Raum verteilt. Jede der Karten markiert eine innere Stimme in ihr. Es gibt den Träumer oder Visionär, der alles machen darf, wonach ihm gelüstet. Der Kritiker hat immer wieder Einwände, sieht Hindernisse und Gefahren und bremst den Träumer in seinem Überschwang aus Der Realist schließlich überprüft die verrückten Ideen des Träumers auf ihre Alltagstauglichkeit und die Einwände des Kritikers auf ihren Wahrheitsgehalt.
Ich konfrontiere Frau M. nun mit ihren inneren Stimmen, indem ich sie von Karte zu Karte führe und sie darin unterstütze, sich in diese Gedanken- und Gefühlswelten hinein zu begeben. Als sie auf dem Platz der Träumerin steht, wirkt sie entspannt und gelöst. Sie redet fröhlich über ihren Traum, mit Kindern zu arbeiten. Aber es kommen auch andere Aspekte hinzu. Ihre sportlichen Aktivitäten und ihr gesundheitsbewusstes Leben spielen auf einmal eine Rolle. Und die Sehnsucht, zu reisen. Die Kritikerin nimmt Frau M. jedoch allen Mut. Ähnlich wie in unserem Gespräch zuvor wirkt sie in dieser Rolle mutlos, äußert Ängste und Minderwertigkeitsgefühle. Die Realistin schließlich entwickelt erste Lösungsideen. Sie erinnert an Situationen, in denen Frau M. sehr erfolgreich Neues bewältigt hat. Und sie weist darauf hin, dass es gerade für Menschen wie Frau M. viele Weiterbildungsmöglichkeiten gibt.
Symbolisch tauschen die drei inneren Stimmen ihre Gaben untereinander aus. Die Realistin untermauert die Ideen der Träumerin mit handfesten Vorschlägen. Die Kritikerin erhält von den anderen Beiden Zuversicht, wird aber auch in ihrer Rolle als Beschützerin gewürdigt, die es mit ihren Ängsten und Sorgen doch nur gut meint und Frau M. vor Überforderungen bewahren will. Die Träumerin gibt Frau M. abschließend einen Ratschlag mit auf den Weg:
„Du darfst glücklich sein.“ Sie strahlt, als sie diesen Satz formuliert.
Der Prozess ist sehr intensiv, sehr emotional, aber auch sehr spielerisch.

Als wir fertig sind, schaut Frau M. nachdenklich zurück.
„Dass der Sport auch eine Rolle spielen könnte, war mir gar nicht so klar“, sagt sie. Und: „Ich habe zum ersten Mal das Gefühl, dass ich meine Ängste überwinden kann. Die Vorstellung, dass ich sie nicht immer nur verdrängen muss, sondern sie auch ihren Platz und ihre Berechtigung haben, finde ich sehr spannend.“

Ich gebe Frau M. eine Hausaufgabe mit auf den Weg: „Suchen Sie sich in Ihrem Freundes- und Familienkreis fünf Menschen, die aufschreiben sollen, welche Gaben und Talente Sie haben. Bringen Sie diese Texte bitte zu unserer nächsten Sitzung mit."

Frau M. wirkt sehr nachdenklich, als sie sich verabschiedet. Sie hat heute zum ersten Mal ein Gespür dafür bekommen, wohin ihre Reise gehen kann und welche Hindernisse unterwegs warten. Noch hat sie kein Ziel konkret formuliert und kein Hindernis wirklich beseitigt. Aber sie hat sich auf den Weg gemacht und einen Prozess in Gang gebracht, der sich nicht mehr so leicht aufhalten lässt.

Fortsetzung folgt

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