Warum Schriftsteller bessere Menschen sind

Vor gut einem Monat, am 12. September hat sich der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace im Alter von 46 Jahren in seinem südkalifornischen Haus erhängt. Er litt offenbar an Depressionen und konnte nicht länger verhindern, dass die schwarzen Dämonen seinen Lebenswillen überrumpelten. Ein Verlust für alle Leser, eine Tragödie für ihn selber.

Unter dem Titel „Plain old untrendy troubles and emotions“ druckte die britische Zeitung Guardian in ihrer Wochenendbeilage vom 20. September eine Ansprache ab, die der studierte Philosoph auf der Abschlussfeier eines US-College hielt. In einer dem geistigen Niveau 21-jähriger Bachelor-Absolventen angemessenen Sprache erläutert Foster darin, was das Prinzip des freien Willens in der tagtäglichen Konfrontation zwischen Selbst und Anderem für ihn bedeutet: eine ständig neu zu treffende bewusste Entscheidung zwischen Glück und Unglück oder doch, um das Pathos aufs Lebensweltliche herunterzuschrauben, zwischen Zufriedenheit und Unzufriedenheit.

Er beschreibt eine typische Feierabendsituation: Man kommt genervt von der Arbeit, muss noch schnell ein paar Besorgungen erledigen – und gerät damit sofort in Konflikt mit Hunderten von anderen Normalverbrauchern, die genauso genervt von der Arbeit kommen und noch schnell ein paar Besorgungen erledigen müssen. So steckt man zunächst im Stau, prügelt sich dann im Supermarkt um den letzten Einkaufswagen, steht Schlange an der Käsetheke und in einer noch längeren Schlange an der Kasse, und wenn die Tüten endlich im Kofferraum verstaut sind, reiht man sich wieder in den stockenden Verkehr abgehetzter Humanressourcen ein.

Jeder von uns hat nun – und zwar jeden Abend von neuem – die Wahl: Entweder empfinden wir unsere Mitmenschen als Störfaktoren, die der Verwirklichung unserer eigenen Wünsche im Weg stehen. Dies, so Foster Wallace, sei unsere „Standardeinstellung, wie sie von Geburt an fest in unseren Köpfen verdrahtet ist“: „Die Gesamtheit meiner unmittelbaren Erfahrung bestärkt mich in der tiefen Überzeugung, dass ich der absolute Mittelpunkt des Universums bin, die realste, lebendigste und wichtigste Person überhaupt. Wir reden selten über diese natürliche, grundlegende Ego-Zentriertheit, weil sie gesellschaftlich so verpönt ist, aber in unserem tiefsten Innern geht es uns eigentlich allen so.“ Bestenfalls hätten wir als Zusatzfunktion ein soziales Bewusstsein installiert, mittels dessen „ich im Feierabendstau stehen und mich über all die riesigen, dämlichen, die-Fahrbahn-versperrenden SUVs, Hummers und Geländewagen mit ihrer ungeheuren selbstsüchtigen Benzinverschwendung empören und darauf herumreiten kann, dass die patriotischen und religiösen Autoaufkleber immer an den größten, abscheulich selbstsüchtigsten Wagen mit den hässlichsten, rücksichtslosesten und aggressivsten Fahrern zu kleben scheinen, die meistens auch noch telefonieren, während sie anderen Leuten die Vorfahrt nehmen, nur um ein paar dämliche Meter im Stau vorwärts zu kommen.“

Als Alternative empfiehlt er sozusagen die lebenspraktische Anwendung einer beliebten Workshop-Übung, die er selber oft mit seinen Creative Writing-Studenten am Pomona College durchgeführt haben muss: Versuchen Sie sich in die Kundin hineinzuversetzen, die mit ihrem übervollen Einkaufswagen vor Ihnen in der Schlange steht und Ihnen bestimmt noch weitere zehn Minuten Ihrer wertvollen Zeit rauben wird, bevor sie ihr Portemonnaie aus der Handtasche gekramt, sich zwischen drei Kreditkarten für diejenige entschieden hat, deren Verfügungsrahmen eventuell noch nicht ausgeschöpft ist, und schließlich ihre drei Rotznasen von der Süßigkeitenauslage losgeeist hat. Malen Sie sich einmal aus, nicht Sie, sondern genau diese nicht sonderlich attraktive, jedenfalls viel zu mollige Frau in der schlecht sitzenden Billig-Jeans wäre der Mittelpunkt des Universums. Eine lächerliche Vorstellung? Probieren Sie es trotzdem, wozu haben Sie denn Ihre Fantasie!

Warum kauft sie fünf Hähnchen, aber kein anderes Fleisch? Gab's die im Sonderangebot? Hat sie Angst vor Rinderwahn? Isst sie aus religiösen Gründen kein Schwein? Mag ihr Mann es nicht? Wo ist überhaupt ihr Mann? Vielleicht liegt er nach einem schweren Unfall im Krankenhaus, vielleicht hat er sie und die Kinder längst verlassen, vielleicht vergnügt er sich im Motel mit einer Kollegin oder in der Kneipe mit seinen Kumpels, vielleicht wartet er aber auch zu Hause und hat schon mal den Tisch gedeckt, den Salat gewaschen und den Ofen vorgeheizt. Vielleicht wird er sie ganz fest in die Arme nehmen, wenn er endlich ihren Schlüssel in der Tür hört, so dass sie den ganzen Stress ihres unerträglich langen, langweiligen Tages zwischen Teilzeitjob und Vollzeit-Haushalt vergisst.

Sehen Sie – schon sind über diesen Gedankenspinnereien zehn Minuten verflogen, und Sie sind mit Bezahlen dran. Und außerdem haben Sie noch ein Lächeln auf den Lippen, weil Sie sich gerade das total geschmacklos eingerichtete Wohnzimmer dieser Familie vorgestellt haben. Das war wiederum ziemlich zynisch und ganz und gar nicht einfühlsam von Ihnen, aber ein bisschen Spaß muss schließlich sein, Sie sind ja nur ein Mensch und kein Engel. Wenn Ihnen die Kassiererin jetzt einen schönen Tag wünscht – zugegeben, die Chancen dafür stehen hierzulande schlechter als in den Supermärkten, wo Foster Wallace einzukaufen pflegte –, können Sie ihr ganz aufrichtig antworten: „Danke, gleichfalls!“, statt etwas Garstiges in Ihren Bart zu brummeln.

Das eigentlich Bedrückende daran finde ich, dass diese „fest verdrahtete Standardeinstellung“ ja kein anthropologischer Zufall ist, sondern sich das „egoistische Gen“, wie Richard Dawkins es nennt, evolutionsgeschichtlich gegen die Bereitschaft zu Altruismus und Kooperation, gegen den Anstand im Umgang miteinander durchgesetzt hat, weil es die günstigeren Voraussetzungen für den Erhalt der Art gewährleistete. Wer es schafft, den „Ich, ich, ich“-Trieb zu unterdrücken, seinen Mitmenschen mit Geduld und Verständnis zu begegnen, statt sie zum eigenen Vorteil aus dem Weg zu schubsen, mag ein Held des Alltags sein, aber Helden haben traditionell schlechte Überlebenschancen, und Helden des Alltags offensichtlich genauso. Als Trost bleibt da immerhin die Erkenntnis, dass Schriftsteller, die doch gemeinhin als kauzige Eigenbrötler gelten, in Wirklichkeit qua ihrem Berufsbild eine ungeheure empathische Kompetenz entwickeln: weil sie immer wieder ihre Standardeinstellungen ausschalten müssen, um zu wissen, was ihre Figuren fühlen und denken. Diese wiederum rettet ihre Gattung nicht vor dem Aussterben, aber womöglich vor dem Verhungern, lässt sie sich doch notfalls auf dem Arbeitsmarkt als people skills verhökern.

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