Die totale Erinnerung

Manchmal fluche ich ganz schön über mein schwaches Gedächtnis. Was habe ich meiner Schwester letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt? Doch hoffentlich nicht das Buch, das ich gestern für sie gekauft habe? Und wo habe ich vor zwei Jahren Ostern verbracht? Zuhause bei meiner Familie? Oder habe ich in dem Jahr diesen total verregneten Nordseeurlaub gemacht? Ich kriege das erst wieder zusammen, wenn ich mir alte Fotos und das dazu gehörige Datum ansehe.

Im Gegensatz zu meinem ständig schwächer werdenden Kurzzeitgedächtnis funktioniert mein Langzeitgedächtnis sehr gut. Ich kann mich an Ereignisse erinnern, die zurück bis in meine ersten zwei Lebensjahre gehen. Manche herausragenden Momente sind geradezu fotografisch genau in meinem Gedächtnis eingebrannt. Ich weiß, was ich an diesen Tagen für Kleidung getragen habe, wie das Wetter war und was ich unternommen habe. Dennoch sind das nur winzige Ausschnitte aus meinem Leben, die zu einem großen Ganzen verschmelzen. Tausende von Tagen und Stunden sind einfach im Nichts verschwunden. Und mit ihnen gute und schlechte Gefühle. Zurück bleiben vage Erinnerungen, verbunden mit deutlich entschärften Gefühlsregungen, die ich im Laufe meines Lebens immer wieder reflektiert habe und heute als Erwachsene wahrnehme und nicht etwa als zehnjähriges Kind.

Das ist sicher gut so, denn was geschieht, wenn man nicht vergessen kann, das erlebt die Amerikanerin Jill Price, die seit ihrem achten Lebensjahr jeden einzelnen Tag ihres Lebens im Kopf gespeichert hat. Soeben ist über ihr Leben, das für sie zu einem Alptraum wurde, ein Buch erschienen. Wie soll man vergeben und verzeihen, wenn man nie vergessen kann? Wie soll man den Verlust geliebter Menschen verarbeiten, wenn man in einer Endlosschleife wieder und wieder den Moment des Abschieds so genau vor sich sieht, als hätte man soeben einen Film gesehen? Wie kann man sich weiter entwickeln, wenn man immer nur in der Vergangenheit festhängt?

Ich möchte nicht mit Jill Price tauschen. Ein gutes Gedächtnis kann zwar manchmal sehr hilfreich sein, doch nicht ohne Grund legt unser Gehirn viele Erlebnisse im Unterbewussten ab. Sie würden uns nur in unserer Entwicklung blockieren. Ich finde es zwar schade, dass in meiner Erinnerung vieles verschwimmt und ich z.B. nicht mehr genau weiß, wie eigentlich die Falten im Gesicht meiner Großmutter aussahen. Dafür kann ich mich aber auch nicht mehr an all die Momente erinnern, in denen sie mit mir geschimpft hat. Und das ist gut so! Als Gedächtnisstützen für bestimmte Ereignisse habe ich meine Tagebücher und Fotos. Oder Freunde und Familie, die manchmal ganz andere Dinge erinnern als ich. Das ist dann auch sehr spannend.
Paulaline - 7. Okt, 19:02

Das stelle ich mir grausam vor.
Ich bin sehr dankbar, dass einige (sehr) unschöne Erlebnisse meiner Vergangenheit, wenn sie auch nicht vergessen sind, zumindest verblassen im Laufe der Zeit.

Katharina Burkhardt - 7. Okt, 20:28

Ich glaube auch, dass das sehr grausam ist. Allerdings finde ich auch faszinierend, wozu ein menschliches Gehirn fähig ist.

Trackback URL:
https://knotenpunkte.twoday.net/stories/5237989/modTrackback


Abschied
Aus dem Kiez
Coaching
Das Krimi-Experiment
Dies und Das
Feierabend
Kommunikation
Kreatives Schreiben
Leben
Lost in Translation
Nachgedacht
Schnappschüsse
Singles
Termine
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren