Samstag, 23. Mai 2009

Toleranz

Je wärmer es wird, je weiter meine eigenen Rocksäume nach oben wandern, desto erschreckender wird mir jeden Sommer bewusst, wie viele unserer Nachbarinnen nur noch von Kopf bis Fuß verhüllt vor die Tür gehen. Manchmal möchte ich sie zur Rede stellen, ob das ein Akt der Unterwerfung oder des freien Willens ist: Wem gehören eure Körper – euch, die ihr sie unliebsamen Blicken entzieht, oder euren Vätern, Onkeln, Brüdern, Ehemännern, die euch dazu zwingen? Wessen Freiheit größer ist – meine, weil ich anziehe, was ich will, oder eure, weil ihr nicht auf Schritt und Tritt von notgeilen Augen ausgezogen werdet –, brauche ich nicht zu fragen.

Aber ich bleibe stumm. Aus Respekt, wie ich mir einrede, aus weltoffener Toleranz. Wohl auch aus Feigheit. Statt dessen starren wir uns in der U-Bahn oder bei Aldi gegenseitig an. Keine Ahnung, was sie in meinem Gesicht lesen – Unverständnis? Missfallen? Neugier? Mitleid? Verzweiflung gar: vierzig Jahre Feminismus und jetzt das? –, aber ich fürchte, in ihren steht etwas ganz anderes als der Neid, den ich unter umgekehrten Vorzeichen empfinden würde.

Vielleicht sollte ich sie einfach ansprechen. Vor fünfzehn Jahren habe ich mal ein paar Monate in einer Fabrik gejobbt. Insgesamt waren wir ungefähr zwanzig Frauen, zur Hälfte Deutsche, zur Hälfte Türkinnen, von denen einige Jeans und T-Shirts, andere volle Kopftuchmontur trugen. Die Älteste war knapp 50, die Jüngste gerade 19. Die Arbeit war langweilig, aber nicht anstrengend, und in unserer Nähe dröhnten auch keine lauten Maschinen.

Was glauben Sie, womit wir uns die Zeit vertrieben haben. Wir haben tütenweise diverse Suchtmittel aus der Produktpalette von Katjes und Haribo konsumiert und geredet – und geredet: acht Stunden am Tag, fünf Tage die Woche. Nicht gerade über Gott und die Welt, aber über ziemlich viel, was uns im Alltag bewegte und begegnete, bis hin zu den Nichtsnutzen in unseren Betten, die als „mein Bekannter“ tituliert wurden, sofern es sich nicht um den angetrauten Herrn Gemahl handelte.

Selten in meinem Leben habe ich mich mit eigentlich Wildfremden so offen ausgetauscht. (Dass die meisten meiner Kolleginnen den Rest ihrer Tage zwischen Küche, Kreissaal, Moschee, Arbeitsamt und Zeitvertrag verbringen dürften, während ich nur kurz Zwischenstation machte, um Schulden bei meinen Eltern zurückzuzahlen und für das nächste Surf-Abenteuer zu sparen, ist natürlich eine andere Geschichte.)

So gern ich an jenen Frühling zurückdenke – 17 Mark pro Stunde waren damals eine Menge Geld für mich –, kommt leider immer öfter eine weniger schöne Erinnerung hoch, wenn ich im Sommer bei uns im Kiez unterwegs bin. Nämlich daran, wie ich mich mal in Shorts und Trägertop in das ultra-orthodoxe Jerusalemer Viertel Mea Sharim verirrt habe – ein Fehler, vor dem jeder Reiseführer ausdrücklich und eindringlich warnt. Wenn Blicke steinigen könnten ... Am Ende war es eine Frau, die mich am Arm packte und mir unmissverständlich bedeutete, dass meinesgleichen dort nicht erwünscht war.

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