Dienstag, 12. Mai 2009

Betrachtungen einer Unbefugten

Heute fliegt der Rosinenbomber noch einmal – der ehemalige Flughafen Tempelhof feiert sechzig Jahre Ende der sowjetischen Lebensmittelblockade. Herzlichen Glückwunsch!

Seit Tempelhof am 31. Oktober 2008 seinen Flugbetrieb einstellte, sind unsere Balkonmöbel, Fensterscheiben und Gardinen so sauber wie nie zuvor, das Wohnzimmer wird nicht mehr regelmäßig vom Höllenlärm einer Maschine im Landeanflug erschüttert, und erstmals seit Jahren leide ich in diesem Frühling kaum unter Heuschnupfen-Beschwerden. Statt vor Schreck aus dem Bett zu fallen, wenn der erste Tiefflieger des Tages über uns hinweg donnert, werden wir nun sanft vom Getöse der Müllmänner aus Morpheus‘ Armen gerissen – Verzeihung, vom Servicepersonal der Stadtreinigung, das einfach nicht einsehen will, warum andere Leute um halb sechs noch schlafen sollen, wenn sie selber in aller Herrgottsfrühe aus den Federn müssen. So weit, so prima.

Für die Schließung warb der Senat seinerzeit mit Visionen eines Freizeitgeländes nach dem Vorbild des Central oder des Hyde Park, die mein Läuferinnenherz höher schlagen ließen – auch wenn ich selbstverständlich niemals so gutgläubig war, sie für bare Münze zu nehmen. Ein halbes Jahr später ist der Zaun so hoch und so stark bewacht wie eh und je, uns Unbefugten bleibt das Betreten verboten. Zwischennutzungskonzepte beschränken sich auf fantasielose Spektakel wie die Pyromusikale oder teure Großveranstaltungen wie das Berlin-Festival und ein Reitturnier im kommenden Herbst (na, immerhin).

Während früher wenigstens die Flughafenmitarbeiter auf der Innenseite des Zauns ihre Runden drehen durften – zu unser aller großem Neid, denn ihre Trainingsbahn wurde bei Schnee und Eis immer astrein frei geräumt –, verfügt Berlin nun über eine ganz und gar menschenleere Grünfläche von der Größe eines Central oder Hyde Park. Doch wo ich blühende Wiesenlandschaften und fröhlich picknickende Menschen sehe, sehen andere 1A-Bauland im Wert von Millionen Euro. Tagtäglich werden in Deutschland um die einhundert Hektar Boden versiegelt, wieso sollte dieser kerosingetränkte Flecken deutscher Nachkriegsgeschichte davon verschont bleiben? Wenn wir Glück haben, wird das 158. Einkaufszentrum draus, dessen Türen wenigstens für alle offen stünden.

Vor kurzem flatterte uns nun das Schreiben einer „GEWOBAG Kapital- und Mieterhöhungsgesellschaft mbH“ in die Briefkästen. „Die Pläne des Berliner Senats sehen vor, in Ihrer Umgebung Luxuswohnungen zu errichten. In einem ersten Schritt planen wir, Ihre Miete zu erhöhen, um mit diesen Mitteln Ihr Mietobjekt zu sanieren“, wird darin mitgeteilt. „Wenn Sie über genügend Einkommen verfügen, würden wir uns freuen, Sie weiterhin als Mieter in unserem Hause behalten zu dürfen. Falls Sie die erforderlichen finanziellen Mittel nicht aufbringen können oder gar nicht aufbringen wollen, bitten wir Sie, ohne großes Aufsehen Ihre Wohnung zu räumen, um Platz für besser Verdienende zu schaffen.“

Bei näherem Hinsehen entpuppte sich diese Mieterinformation als Fälschung. Ihr Urheber ist eine Initiative, die „Ideen für eine sinnvolle, nicht kommerzielle Nutzung“ des Flughafengeländes sammelt und im Rahmen einer Besetzungsaktion offenbar auch verwirklichen will. Dass sie sich aber auf den ersten Blick so plausibel und realistisch las, sagt wiederum mehr über die Zustände in unserer Gesellschaft als über meine Gutgläubigkeit.

In einer bankrotten Stadt mit 14,7 Prozent Arbeitslosigkeit zu leben, in der fast jeder Zehnte am sozialen Tropf hängt, ist bei allem abgewrackten Charme, bei aller Romantik ruinierter Träume keine reine Freude – das wurde für die breite Masse der Unbefugten spätestens 2001 deutlich, als die Berliner Bäderbetriebe in der Folge des Bankenskandals schlagartig ihre Eintrittspreise verdoppelten, Dauerkarten abschafften, die Sommersaison um zwei Monate verkürzten und anfingen, Freibäder zu verpachten oder ganz zu schließen. Aber ist Gentrifizierung mit Hilfe finanzstarker Investoren wirklich ein Allheilmittel (ganz abgesehen davon, dass finanzstarke Investoren in Zeiten der Weltwirtschaftskrise zunehmend dünn gesät sind und sich andererseits die Nachfrage nach Luxuswohnungen bis auf weiteres erledigt haben dürfte)? Gibt es zwischen „arm, aber sexy“ und „reich, aber das Prekariat darf nur durch den Zaun zuschauen“ wirklich keine Hoffnung für Berlin?

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