Dienstag, 31. März 2009

Das Krimi-Experiment Teil 4

Oder: Wie ich einen Marathon lief, ohne das Haus zu verlassen

Am Start. Ich komme mir total fehl am Platz vor. Um mich herum stehen nur muskelbepackte, durchtrainierte Leute, die so aussehen, als könnten sie diesen Lauf zweimal hintereinander absolvieren. Und dazwischen bin also ich, klein, unscheinbar, völlig untrainiert. Ich schätze, ich komme über die ersten drei Kilometer nicht hinaus, das ist die Strecke, die ich normalerweise so zurücklege. Drei Kilometer, oder einen Blogtext, eine Kurzgeschichte, einen langen Brief. Mein Ziel lautet jedoch, einen ganzen Roman zu schreiben. Innerhalb von zwei Monaten. Das kommt der Anstrengung eines Marathons von 42 Kilometern Länge sehr nahe.

Es geht los. Och, denke ich, so wild ist das ja gar nicht. Das Wetter ist ganz schön, ich habe mich beim Aufwärmen sehr energiegeladen gefühlt und die ersten Kilometer, äh Kapitel meistere ich mit links. Am Straßenrand erspähe ich Frau Brown, die fröhlich ein Fähnchen schwenkt. „Super!“ brüllt sie. „Weiter so!“ Ich strahle und nehme die nächsten Kilometer ins Visier.

Bei Kilometer 8 kriege ich die erste Krise. Ich habe in der jubelnden Menge meine Verwandtschaft entdeckt. Ein Teil von ihnen (ich nenne jetzt keine Namen) zieht ein missmutiges Gesicht. „Mach mal ein bisschen Tempo!“ höre ich. „Du bist ganz schön lahm.“ Ich schaue zurück auf die ersten Kapitel, die ich geschrieben habe. Stimmt das? Ist das wirklich alles Mist? Etwas Schlimmeres als einen langweiligen Krimi gibt es nicht. Große Selbstzweifel bringen mich dazu, das ganze Projekt in Frage zu stellen. Aber dann merke ich, dass all die anderen Leute am Straßenrand mich freundlich anfeuern und ihre Rufe mich weiter tragen. Ich beschließe, meine Verwandtschaft ab sofort zu ignorieren und nur noch auf die Stimmen der anderen Passanten zu lauschen.

Dennoch bin ich aus dem Takt gekommen. Es läuft nicht so rund wie auf den ersten Kilometern. Mein Rücken tut mir weh. Ich lege eine Essenspause ein, um nachzudenken, wie nun alles weiter gehen soll. Am Verpflegungsstand steht Frau Brown und gibt mir als erfahrene Marathonläuferin rasch ein paar Tipps. Danach geht einiges tatsächlich leichter. „Und denk immer dran, ab Kilometer 22 läufst du nur noch nach Hause!“ ruft sie mir noch hinterher, dann bin ich auch schon wieder mitten im Getümmel. Kilometer 22? Also Kapitel 6. Mein Problem ist nicht das Tempo, merke ich jetzt, sondern die Spannung. Wie schaffe ich es, die Leute zu fesseln?

Ich passiere Kilometer 22 in erstaunlich guter Verfassung. Um mich herum lichtet sich das Feld. Da sind ja gar nicht so viele durchtrainierte Sportler unterwegs, wie ich anfangs dachte, sondern ganz viele Hobbyläufer, mit denen ich locker mithalten kann. Auf einmal läuft alles rund. Meine Beine tragen mich Kilometer um Kilometer vorwärts, Kapitel 7 und 8 entstehen wie von selbst. Ich kriege dieses rauschhafte Gefühl, das sich bei intensivem Laufen einstellt, schaue kaum noch nach links und rechts und haue mechanisch Finger um Finger auf die Tastatur. Es wird! Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass ich es schaffen kann.

Bei Kilometer 30 klemmt es. Kapitel 9 hat mich viel Kraft gekostet, ich bin unsicher, ob da wirklich alles Hand und Fuß hat. Jetzt könnte ich gut ein bisschen Unterstützung gebrauchen. Aber von Frau Brown ist weit und breit nix zu sehen. Wo steckt die bloß? Ich kämpfe und ringe weiter mit mir selbst. Mein Lauf ist eine sehr einsame Angelegenheit geworden, auf einmal gibt es nur noch mich und die Straße, mich und die letzten drei Kapitel. Da taucht endlich auch Frau Brown wieder auf. „Es gibt Leute, die behaupten, dass dein Lauf erst ab Kilometer 30 richtig anfängt“, ruft sie fröhlich. „Die letzten 12 Kilometer sind angeblich die härtesten deines Lebens.“ Soll das ein Scherz sein? Und was war mit der Behauptung, dass ab Kilometer 22 alles von selbst geht? Ich bin fertig, mit dem Lauf, mit dem Krimischreiben. Nichts geht mehr. Frau Brown schüttelt missmutig den Kopf und tippt auf ihre Uhr. Tempo, Mädel, will sie wohl sagen. Jetzt überholen mich sogar schon die dicken, schlaffen Hobbyläufer. Aber ich weiß einfach nicht mehr weiter. Habe ich mich etwa verlaufen? Hier sieht alles so merkwürdig aus, fühlt sich vieles nicht mehr richtig an. Seufzend wälze ich meine Geschichte im Kopf von A nach B und wieder zurück. Ich hätte so gerne ein wirklich gutes Finale, aber dafür bin ich wohl doch zu untrainiert.

Die letzten drei Kilometer. Ich sehe unseren Praktikanten am Ziel stehen. Und neben ihm schwenkt seine Mutter ein riesiges Transparent hin und her. „Du bist die Größte!“ steht darauf, aber ich bin nicht sicher, ob sie überhaupt mich damit meint und nicht doch eher die schicke, junge Frau neben mir, die gerade noch mal einen richtigen Spurt einlegt. Meine Verwandtschaft ist auch wieder da und blickt jetzt total begeistert drein. „Super!“ brüllen auch jene, die noch vor gar nicht langer Zeit sehr skeptisch waren. Ich strahle. Und spüre, dass meine Beine jeden Moment nachgeben. Ich kann nicht mehr.

Totale Hirnleere. Ich glaube, ich breche gleich zusammen. So kurz vorm Ziel. Jemand blafft mich von der Seite an, und mir schießen Tränen in die Augen. Geht mir doch alle weg mit diesem blöden Krimi. Verbrennen möchte ich ihn am liebsten. Ist doch eh alles ganz großer Mist. „Du hast es gleich geschafft“, höre ich da eine aufmunternde Stimme neben mir. Frau Brown hat sich mit auf die Rennstrecke begeben und zieht mich die letzten Meter ins Ziel. „Guck mal, da vorne ist schon das Brandenburger Tor.“ Sie lächelt mich ermutigenden an. Brandenburger Tor? Ich dachte, ich laufe durch Hamburg. Irritiert schaue ich mich um. Kein Wunder, dass sich unterwegs einiges so falsch angefühlt hat. Ich bin offenbar sehr vom Kurs abgekommen. Aber das macht gar nichts. Auch hier stehen die Menschen, die mir wichtig sind, ermutigen mich, jubeln mir zu und bestärken mich darin, dass ich alles richtig gemacht habe. Auch hier gibt es ein Ziel, das ich tatsächlich erreiche. Ob dieses Ziel in Hamburg oder Berlin liegt, was spielt das schon für eine Rolle? Ich bin da! Ich hab’s geschafft!

Rund 200 Normseiten umfasst das fertige Manuskript. Als ich es in den Händen halte, bin ich selig. Ich glaube, ich habe in den letzten zwei Monaten den Lauf meines Lebens hingelegt. Jedenfalls fühlt es sich so an. Wie gut ich dabei war, müssen nun andere entscheiden, ich selbst vermag das nicht zu sagen. Dafür war ich viel zu sehr drin, in diesem Krimi, der mich vorwärts getrieben hat, Tag für Tag ein Stückchen mehr. Am Ende bin ich unendlich erschöpft, aber auch sehr erfüllt. Fast wie ein echter Marathonläufer.

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