Samstag, 13. Dezember 2008

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„Je mehr wir uns austauschen, desto mehr werden wir lernen; je mehr wir lernen, desto mehr werden wir wissen; je mehr wir wissen, desto glücklicher werden wir sein. Auch der Freundeskreis wird glücklicher sein und immer reicher werden, und seine Anzeigenkunden genauso, so dass am Ende womöglich kein Unterschied erkennbar ist zwischen Austausch und Kaufrausch, zwischen Community und Kommerz.“

Diese Sätze sind einer lange verschollenen, jüngst wieder aufgetauchten Kurzgeschichte von George Orwell entnommen, einer Art Pendant zu „1984“. Statt der sozialistischen beschreibt er dort in halb erzählerischer, halb essayistischer Form die kapitalistische Dystopie. Nicht der allmächtige Staat, sondern ein noch viel mächtigerer Großkonzern namens Wunderwelt überwacht und kontrolliert das Leben jedes einzelnen Verbrauchers. Um die Risiken des Zufalls zu minimieren, der sich bisweilen sehr geschäftsschädigend auswirken kann, kommen zwei Kluge Köpfe aus der Abteilung Gedankenspiele & Geistesblitze auf eine brillante Idee: Mittels geschickter Sinnestäuschung aus der Trickkiste viktorianischer Illusionisten gaukeln sie eine Parallelwelt vor, quasi ein Spiegelbild der unseren, in der die werberelevante Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen nach Herzenslust ihre Wünsche und Fantasien austoben kann.

So lernt Wunderwelt den Verbrauchern alle Wünsche von den Lippen abzulesen und ihre Fantasien zu steuern. Tochtergesellschaften wie der Freundeskreis imitieren und infiltrieren das Sozialverhalten von Hunderten Millionen Menschen, nehmen massiven Einfluss auf ihre Freizeitgestaltung und verkaufen ihnen ganz nebenbei Dinge, von denen sie bislang überhaupt nicht gewusst hatten, wie sehnlichst sie sie begehrten.

Die beiden Klugen Köpfe denken sich auch einen neuen Slogan aus, der das bei den Verbrauchern eher unbeliebte „Big Brother is watching you“ ersetzen soll: „Du hast überall Freunde“. „Hat man jemanden ausfindig gemacht, den man kennt, so kann man fragen, ob man dessen Freund werden kann, und dann bekommt man seine gesamte Fotogalerie und seine Freunde zu sehen, und wer weiß, bald trifft man vielleicht Verabredungen oder gründet Gruppen für Gleichgesinnte (Drechsler in Yorkshire) oder schreibt eine Botschaft an seine ‚Tafel‘ oder schickt jemandem eine Wunderwelt-Umarmung oder erzählt allen Leuten, was man so tut. ‚Simon isst gerade Kuchen‘, könnte eine solche Botschaft lauten, und plötzlich teilt eine entfernte Cousine aus Ontario mit, dass sie auch gerade Kuchen ist, und auf diese Weise tauscht man Humbug miteinander aus“, schildert Orwell atemlos. „Dann schaut man am nächsten Tag auf seine Tafel und findet dort eine Nachricht von einem Tortenplatten-Fabrikanten, der einem etwas verkaufen will.“

Diese Zukunftsvision kommt der heutigen Realität erschreckend nahe, meinen Sie? Sie liegen absolut richtig. Ich habe Sie nämlich glattweg angelogen. (Sie sollten wirklich nicht alles glauben, was Sie im Internet lesen.) Es gibt keine kürzlich wiederentdeckte Kurzgeschichte von George Orwell. Vielmehr stammen die oben zitierten Sätze allesamt aus einem Artikel über den milliardenschweren Erfinder einer bekannten Kommunikationsplattform zum Wiedertreffen und Kennenlernen, deren Namen ich in meiner Übersetzung kreativ verfremdet habe, damit Sie mir nicht sofort auf die Schliche kommen. Nennen wir sie ruhig weiterhin „Freundeskreis“, wir wollen hier ja keine Schleichwerbung machen. „Von Privatleuten bis hin zu multinationalen Unternehmen kann jeder beliebige Marktteilnehmer Freundeskreis-Nutzer erreichen, indem er, sagen wir, 50 Cent pro Zielperson zahlt“, heißt es darin, und weiter: „Freundeskreis weiß zum Beispiel, wie viele Menschen sagen, sie hätten zum Frühstück ein Kellogg‘s-Produkt gegessen.“

Ich will Sie um Himmels willen nicht aus unserer kuscheligen Ecke des Web 2.0 vergraulen – da draußen in der Echtzeit ist es momentan verdammt ungemütlich! Im übrigen arbeitete ich, als mir besagter Artikel in die Hände fiel, gerade an einem kleinen Text über die Unvorstellbarkeit eines Lebens ohne Internet. Eigentlich wollte ich mich nur mit Ihnen darüber austauschen, wie nachdenklich mich diese Lektüre gestimmt hat. Und ich glaube, mir und Ihnen kann es nichts schaden, beim täglichen Herumsurfen die Frage im Hinterkopf zu behalten, ob unser ganzes fröhliches Geschnatter und Geplapper so harmlos ist, wie es uns lieb wäre.

Ob die Klugen Köpfe aus der G&G wenigstens zur Belohnung für ihren genialen Einfall einen dicken Bonus bekamen, fragen Sie? Nun, wie man‘s nimmt. Sie wurden in eine Zeitmaschine verladen (Marktneuheit der Firma Fernweh, die Wunderwelt letztes Jahr in einer spektakulären feindlichen Übernahme geschluckt hat, Sie erinnern sich bestimmt) und in die Steinzeit verbannt. So können sie niemandem verraten, dass das ganze Wunderwelt-Paradies nur Schall und Rauch, nur schöner Schein ist.

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